Gert Wiedemann ist Unternehmer in Sachen Mobilität. Dunkle Anzüge und gestreifte Krawatten zu tragen ist seine Sache derweil nicht: Der 62 Jahre alte Maschinenbauer, der sein silberweißes Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden hat, ist vielmehr ein hemdsärmeliger Mann der Tat und ein genialer Tüftler dazu. Alb-Store nennt sich seine Firma, die er vor einigen Jahren in Eislingen gegründet hat, um seiner großen Leidenschaft nachzugehen: Fahrzeuge mit zwei, drei oder auch vier Rädern so umzubauen, dass auch Menschen nach einem Schlaganfall, Menschen mit Querschnittslähmung, Multipler Sklerose oder auch Parkinson-Patienten wieder mobil sein können.
Jedes Fahrgerät, das aus seiner Werkstatt die Rampe hinauf zur Probefahrt rollt, ist dabei eine höchst individuelle Anfertigung. “Wir suchen hier nach passenden Lösungen für die spezifischen Bedürfnisse der Kunden”, sagt Wiedemann: “Wenn das gelingt und ich positive Rückmeldungen bekomme, ist das für mich eine große Motivation, mich noch mehr anzustrengen.” Für den nötigen Antrieb ist also gesorgt, denn positive Resonanz flattert ihm regelmäßig ins Haus. So hat sich erst jüngst ein “Testfahrer” bei ihm gemeldet, der sich ein E-Bike Modell Easy Rider ausgeliehen hatte und statt ursprünglich geplanter fünf Kilometer erst nach geradelten 23 Kilometern durch einen Regenguss gestoppt wurde. “Es war für mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl”, steht in der Dankesmail.
Bei besagtem Gefährt handelt es sich um ein so genanntes Trike, also ein Rad mit extrem stabiler und niedriger Sitzposition sowie zwei Hinterrädern, das Gert Wiedemann für Kunden mit Gleichgewichtsproblemen motorisiert hat, zur Freude nicht weniger Touristen und Ausflügler in der Region. Die unterschiedlichen Modelle aus der Werkstatt des Tüftlers, darunter neben verschiedenen E-Bikes auch ein Rollstuhltransportrad mit Elektroantrieb, können seit einiger Zeit an 30 Verleihstationen in der Erlebnisregion Schwäbischer Albtrauf gemietet werden. Ein Projekt, das zwischenzeitlich als “Juwel des inklusiven Radtourismus” gilt und vom Verband Region Stuttgart gefördert wird.
Für seine Kunden ist Gert Wiedemann ein Glücksfall, für sich selbst ist seine Arbeit zu einer Art Berufung geworden. Dazu gekommen ist der gebürtige Süßener allerdings erst auf einigen Umwegen. Nachdem er an der Esslinger Fachhochschule für Technik Maschinenbau und Energietechnik studiert hatte, entwickelte und baute Wiedemann zunächst als selbstständiger Unternehmer etliche Jahre Prüfanlagen für Automobilzulieferer.
Weil ihm eines Tages der Sinn nach etwas Neuem stand, erfand er für die kleine Glasbläserwerkstatt seiner Frau damals neuartige Gasbrenner, Kühlöfen und andere nützliche Werkzeuge, mit denen die beiden anschließend zehn Jahre lang nahezu ganz Europa versorgten. Am Anfang habe es in Deutschland vielleicht 30 Glasperlenmacher gegeben, erzählt er. “Hinterher waren es hier 500.”
Auf einer der vielen Messen traf der schwäbische Erfinder einen Händler aus Graz, der damals Selbstbausätze verkaufte, um aus einem gewöhnlichen Mountainbike ein Pedelec zu machen. Eine Begegnung, die Gert Wiedemanns Leben verändern sollte. “Im Rückblick war das die Geburtsstunde von Alb-Store”, sagt er. Das erste Fahrrad, das er mit einem Elektromotor bestückte, schnappte sich seine Frau, das zweite sein Sohn, das dritte durfte er dann endlich selber fahren. “Damit bin ich trotz meiner Probleme mit dem Hüftgelenk wieder problemlos den Albtrauf hochgekommen”, erzählt er.
Sein erster Kunde im eigenen Laden hatte einen Herzfehler und eine Frau, die ihren Mann kaum noch zu Gesicht bekam, nachdem er sich ein Rad aus Wiedemanns Werkstatt besorgt hatte. Begleiten konnte sie ihn auf seinen Fahrten nicht, zumindest habe sie als Multiple-Sklerose-Patientin keine Möglichkeit gesehen, erzählt Wiedemann, der seinerzeit so lange nach einer Lösung suchte, bis er ein Dreirad namens Easy Rider entdeckte, das in Holland hergestellt wird. Nachdem er auch bei diesem Rad einen Elektromotor eingebaut und kleine Anpassungen vorgenommen hatte, wurde er wenig später von der Amsel-Gruppe eingeladen, in der Menschen mit Multiple Sklerose und ihre Angehörigen organisiert sind. “Die Frau war so begeistert, weil sie wieder an Orte gekommen ist, von denen sie jahrelang geträumt hat, dass sie gleich allen davon erzählt hat”, sagt Gert Wiedemann.
Seither baut der Unternehmer wegen ständig steigender Nachfrage sein Angebot kontinuierlich aus, wobei er das Rad sozusagen nicht neu erfindet. “Ich schaue mir an, was es schon gibt und überlege, wie man es umfunktionieren kann”, erzählt er. Viele seiner Kunden kommen zwischenzeitlich wegen seiner sogenannten Therapieräder, die sowohl durch Beinkraft über die Pedale als auch mit den Armen über Kurbeln angetrieben werden können.
In seiner Ausstellung steht auch ein ganz besonderes dieser Modelle: ein Rad, mit dem Menschen trotz Querschnittslähmung mit den eigenen Beinen in die Pedale treten können. Möglich ist das mit Hilfe funktioneller Elektro-Stimulation (FES), einer neuartigen Methode, über die das Klinikum München eine umfangreiche Studie durchgeführt hat. “Dieses Training verbessert die Durchblutung. Gleichzeitig werden die Muskeln in den Beinen wieder aufgebaut, was den Betroffenen zum Beispiel wieder längere Flüge ermöglicht”, erzählt Gert Wiedemann. Nach vielen Gesprächen mit Therapeuten und Neurologen hat er diese Technologie ins Filstal geholt, unter anderem gehört nun auch ein junger Mann aus Österreich zu seinen Kunden.