Keine Grenzen, aber immerhin Mauern überwanden die Industriedesignerinnen Bettina Burchard und Alexandra Dittrich. Für ihr Taschenlabel "lemonfish" suchten sie nach einer geeigneten Produktionsstätte und fanden sie im Frauengefängnis Schwäbisch Gmünd – nicht weit entfernt von ihrem Atelier in Plüderhausen in der Region Stuttgart. Hier lassen sie Taschen aus robustem Seesackmaterial aus Bundeswehrbeständen fertigen. Kombiniert mit bunten Stoffen, Schleifen und Stickereien wird jede Tasche zu einem Einzelstück. Das Neueste: Applikationen aus alten deutschen Borten mit folkloristischen Motiven.
Zu jeder Frau gibt es die passende Tasche. Diese Aussage werden die meisten Frauen bestätigen – und hinzufügen: Es dürfen auch mehrere sein. Schließlich will "Frau" für alle Eventualitäten gerüstet sein. Wer gern viel in seiner Tasche mit sich herum trägt, ist mit einer Tasche von lemonfish gut bedient. Die hat nämlich ein besonders reiches und farbiges Innenleben.
Die beiden Designerinnen Alexandra Dittrich und Bettina Burchard, die hinter dem Namen lemonfish stehen, meinen – und beweisen -, dass Funktionalität und Design keine Gegensätze sind. Weil ihnen das Einerlei des Taschenangebots zu langweilig und altbacken war, gründeten sie im Jahr 2001 eine eigene Firma mit Sitz in Plüderhausen in der Region Stuttgart. Der Clou: Alle Taschenmodelle werden aus gebrauchten Seesäcken der Bundeswehr gefertigt. Das robuste Material wird mit ausgesuchten Stoffen, Borten, Stickereien und Schleifen kombiniert, jede Tasche ist ein Unikat mit Patina und individuellen Gebrauchsspuren. Die Produktion findet in deutschen Frauengefängnissen statt.
Mit "Unseren Kameraden" zum Erfolg
In den Anfangsjahren fertigten die gelernten Industriedesignerinnen noch für andere Unternehmen: Taschen für Samsonite oder Bree, für Metabo-Werkzeuge und Apple-Notebooks. Aber der Wunsch, eigene Taschen zu fertigen, die so wenig wie möglich mit den im Handel erhältlichen Produkten zu tun haben sollten, gewann bald die Oberhand. "Zuerst vertrieben wir unsere Taschen über Kataloge und das Internet, dann gingen wir mutig auf Messen, und wir hatten Erfolg auf der ganzen Linie", sagt Alexandra Dittrich. "Damals flogen wir alle paar Monate nach Asien, um mit dortigen Herstellern neue Taschen zu entwickeln. Nachdem wir dann Kinder bekamen, beschlossen wir, Produktionsstätten in der Nähe zu suchen."
Da die Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd gerade mal "einen Steinwurf" entfernt lag, fragte sie einfach an, ob die JVA-Näherei freie Kapazitäten hätte. In dieser Näherei arbeiten Frauen, die Freiheitsstrafen absitzen, in Sicherheitsverwahrung oder in U-Haft sind. Werkstattleiterin und Näherinnen waren gleichermaßen begeistert, als Dittrich und Burchard ihre Entwürfe zeigten.
Für die ersten eigenen Produkte von lemonfish wurden Bundeswehrtaschen aus dem 1950er Jahren verarbeitet, die mit ausgefallenen Applikationen, einem Aufdruck und einem aufwändigen Innenfutter versehen waren. Der Produktname: "Unsere Kameraden". Doch die Vorräte an olivfarbenen Bundeswehrtaschen waren bald erschöpft. Also wich man auf Seesäcke aus. "Alu-Ösen und Schultergurte belassen wir im Originalzustand, die Säcke schneiden wir auseinender, reinigen sie, kombinieren sie mit entzückenden Details wie Lederhirschen oder karierten Borten und nähen sie zur Hand-, Umhänge- oder Notebook-Tasche zusammen", sagt Bettina Burchard.
Die Kombination aus robustem Baumwollgewebe und eher feminin wirkenden Applikationen kommt gut an. "Zurzeit wird uns alles, wo unser Hirsch drauf ist, aus den Händen gerissen", so Bettina Burchard. "Dieses Alpenländische und Heimatliche setzt den robusten Taschen die Krone auf." Und so heißen die Modelle "Heidi", "Klara" oder "Luise". Die Hirsche werden in der Jugendabteilung der JVA von Hand gemalt, ausgeschnitten und aufgenäht. Jede Näherin hat ihr Lieblingsmodell und ihre eigene Nähtechnik. Zwei bis drei Stunden dauert es, bis eine Tasche fertig ist. Da sie auf Abruf gefertigt werden, beträgt die Lieferzeit der "Kameraden" momentan sechs Monate: Die große Nachfrage führt zu Lieferengpässen.
Verkaufszahlen als Motivation, Arbeit als Privileg
Das ist aber kein wirkliches Problem. "Es ist nicht unser Ziel, tausende von Taschen herzustellen, sie sind alle Einzelstücke und die Herstellung braucht eben Zeit", sagt Alexandra Dittrich. "Pro Monat produzieren wir bis zu 100 eckige Schultertaschen und ebenso viele runde." Ob rund oder eckig: Jede gibt es in den Größen S, M und L. Hinzu kommen Schminktäschchen, Mäppchen, Geldbörsen und Schlüsselanhänger – alle mit dem typischen Erscheinungsbild des gebrauchten Materials, kombiniert mit Stickereien, Stoffresten, Hirschen oder Borten.
Die beiden Unternehmerinnen halten die Frauen in der Gefängnisnäherei über die bevorzugten Modelle ihrer Kundinnen und sogar die Absatzzahlen auf dem Laufenden. "Für sie ist es ein Privileg, arbeiten zu dürfen, und sie sind stolz darauf, dass Ihre Arbeit außerhalb der Gefängnismauern geschätzt wird", sagt Alexandra Dittrich. "Für einen Teil der Frauen ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie überhaupt arbeiten."
Seit einem Jahr beschäftigen die Designerinnen neben den Frauen aus der JVA auch eine ehemalige Inhaftierte als Näherin direkt bei lemonfish; zwei weitere sollen in diesem Jahr hinzukommen. "Die Dame war schon in der JVA sehr engagiert und ist auch hier höchst motiviert. Wir fühlen uns den Frauen, denen wir unseren Erfolg zum Teil verdanken, verpflichtet und setzen uns auch auf der persönlichen Ebene für sie ein, indem wir sie bei der Wohnungssuche und beim Umzug unterstützen und uns ihren Kummer anhören", erklärt Bettina Burchard.
Mittlerweile lässt lemonfish Taschen in mehreren Gefängnissen nähen. Bis die "Neuen" an den Nähmaschinen angelernt und die Prozesse optimiert sind, geht allerdings einige Zeit ins Land.
Der neueste Trend: Borten aus Omas Zeiten
Lemonfish-Taschen sind in gehobenen Geschenk- und Designboutiquen sowie in Geschäften mit einem hochwertigen gemischten Sortiment zu finden. Der günstigste Artikel, ein Schlüsselbändchen, kostet zehn Euro, die große Umhängetasche mit Hirsch 169 Euro.
Die Jung-Unternehmerinnen sind ständig auf der Suche nach neuen Ideen, wobei das "Recyceln" von Materialien eine zentrale Rolle spielt. Zurzeit kommen mit alten deutschen Borten veredelte Taschen besonders gut an. "Ein Hersteller, der wusste, dass wir immer nach besonderen Sachen suchen, hat uns einen großen Restbestand angeboten. Solche breiten Borten werden heute gar nicht mehr gewebt, das wäre zu aufwändig", sagt Alexandra Dittrich.
Für die Premiere der mit Blumenranken und folkloristischen Motiven geschmückten neuen Taschen suchte sich lemonfish die Messe Ambiente in Frankfurt am Main aus. Wie erwartet, waren die Besucher der größten Konsumgütermesse der Welt begeistert. "Unsere Taschen kommen auch deshalb so gut an, weil sie eine eigene Geschichte erzählen, sowohl die alten Materialien als auch die Verarbeitung in deutschen Gefängnissen sprechen eine eigene Sprache", so Alexandra Dittrich. So ist es nicht verwunderlich, dass die Umsatzzahlen stetig steigen und immer mehr Einkäufer aus dem Ausland ein Auge auf lemonfish werfen.