Zu Weihnachten und vor allem zu Neujahr knallen sie wieder, die Sektkorken. Leider schäume viel zu oft banale Billigbrause oder schlichter Schaumwein für den Massengeschmack aus der Flasche, bedauert Eberhard Kaiser von der Sektmanufaktur Kessler. Dabei fände sich in Esslingen genügend delikater Ersatz. Dort gärt es im Untergrund . Sage und schreibe eine Viertel Million Flaschen Sekt lagern in den bis zu zwölf Meter tiefen Kellern des Speyrer Pfleghofs, in dem ehemals der Weinzehnt gelagert wurde. Das Anwesen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Stadtkirche und Rathaus ist seit seiner Gründung im Jahr 1826 der Firmensitz und die Produktionsstätte von Deutschlands ältester Sektkellerei. Das ist wenig im Vergleich zu den großen Sektproduzenten, die mit 100 Millionen Flaschen im Geschäft sind. Doch hohe Qualität blüht, wie man weiß im Kleinen. Darauf legt die Sektmanufaktur Kessler heute wieder großen Wert.
Der Erfolg begann erneut zu perlen, nachdem der Ruf des Traditionshauses noch vor einigen Jahren nach schalem Wein bei Opas Geburtstagsparty schmeckte und die Qualität des Esslinger Sekt im Mittelmaß schäumte, schlitterte Kessler knapp an der Insolvenz vorbei. Engagierte neue Gesellschafter wollten die traditionsreiche Marke nicht aufs Altenteil setzen, sondern verordneten eine Verjüngungskur, die sich erst jüngst wieder in einer mehr als löblichen Bewertung spiegelte. In der Rangliste des Magazins STERN zeigte sich, dass die Esslinger Gewächse in der großen Gesellschaft französischer Champagner beste Figur machen. Bei einer Blindverkostung von über 300 Sektsorten quer durch Europa errang der Jägergrün extra trocken aus dem Hause Kessler einen Platz in vorderster Reihe. Sage und schreibe bis zu 3 Millionen Bläschen perlen im Glas mit einem sehr guten Sekt.
“Wir arbeiten mit Liebe zum Produkt und zum Detail”, erklärt Kaiser, “so entsteht mit viel Handarbeit ein Qualitätsprodukt, das sich gut verkauft, weil es überzeugt”. Während viele große und kleine Mitbewerber den Sekt in großen Tanks ausbauen, produziert Kessler mit gerade einmal 30 Mitarbeitern seinen Sekt ausschließlich in der Königsdisziplin der Flaschengärung. Ein Teil wird nach wie vor von Hand gerüttelt, dem in der Champagne entwickelten klassischen Herstellungsverfahren (méthode traditionelle).Der hochgelobte Jägergrün ist nicht die einzige Sorte im Programm. Die Kernmarken von Kessler sind seit über 100 Jahren im Markt. Kessler Cabinet ist die älteste Sektmarke Deutschlands, sie erscheint bereits um 1850 auf Speisekarten. Kessler “Hochgewächs”, ein Blanc de Blancs aus reinen Chardonnay-Weinen, wurde in den zwanziger Jahren auf den Luftschiffen der Zeppelin-Reederei serviert und avancierte nach einem Kellereibesuch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer im Februar 1956 zum “Kanzler-Sekt” für offizielle Empfänge der Bundesregierung.
Hinzu kommen kleine limitierte Sonderauflagen für Liebhaber und Sammler. Mittelfristig strebt die Sektmanufaktur mit der neuen Produktsäule Kessler Kreation das absolute Spitzenniveau an. Schon heute können sich die besten Gewächse mit vielen Champagnern messen. Kenner und Ortskundige genießen während des Esslinger Weihnachtsmarktes die glühweinfreie Zone im Kessler-Karree oder schauen nach dem Wochenmarktbesuch schnell noch auf ein Gläschen im Stammhaus mit herrschaftlichem Ambiente vorbei. Immerhin residierte hier schon der Stauferkaiser Friedrich II. Ein guter Sekt passt zu jeder Gelegenheit, lautet die Maxime bei Kessler. In Frankreich kredenzt man das anspruchsvolle Getränk auch ein ganzes Menü hindurch.
Mit der Neuaufstellung vor einigen Jahren hat sich das Unternehmen nach außen geöffnet – auch diese Kehrtwendung trägt zum Erfolg bei. Neben pfiffiger und anspruchsvollem Marketing erfreuen sich die Kellereiführungen großer Beliebtheit und geben auch ebenso spannende wie wechselvolle Einblicke in die Firmengeschichte.Georg Christian Kessler, der 1787 in Heilbronn geboren wurde, lernte sein Handwerk in Frankreich bei der berühmten Champagnerkellerei Veuve Cliquot-Ponsardin in Reims. Er war nach einigen Jahren Teilhaber des Unternehmens und kehrte in seine Heimat zurück, um dort 1826 eine eigene Sektkellerei zu gründen. Um das teure Vorhaben finanzieren zu können, betrieb er nebenher eine Textilverarbeitungsfirma, aus der im übrigen Merkel und Kienlin hervorgingen (Esslinger Wolle). Zu Hilfe kam Kessler auch, dass nach der Säkularisierung in Esslingen ein großes Immobilienangebot inklusive Kellern zu günstigen Preisen zu erwerben war.
In den weitläufigen mittelalterlichen Gewölbekellern reift der Sekt in der Flasche bis zu vier Jahre lang. Manche Hausfrau kann sich angesichts des grauschwarzen Kellerpilzes, der große Teile des Gewölbes überzieht, nur mühsam beherrschen. Die Gruselatmosphäre ist allerdings ein sicherer Indikator dafür, dass die klimatische Bedingungen im Reifekeller optimal sind. Das Markenzeichen der Firma Kessler sind nach wie vor die beiden wendigen Piccolos. Urheber der Zeichnung war der Simplicissimus-Künstler Josef Benedict Engl. Piccolos wurden anno dazumals die Auszubildenden genannt. Ihr Name übertrug sich auf die kleinen 0,2 Liter Sektflaschen und wurde zum sprechenden Begriff. In diesen homöopathischen Dosen wurde der Sekt Anfang des Jahrhunderts sogar von Ärzten verschrieben und als Medizin gereicht, berichten die Annalen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf lässt sich ein (gutes) Glas Sekt noch besser genießen.