Die Zukunft ist kaum zu hören, weshalb sie an diesem Premierentag fast übersehen wird. Erst eine Lautsprecherdurchsage bringt die versammelten Medienvertreter und anderen Premierengäste dazu, nach oben in den tiefblauen Himmel über dem Stuttgarter Flughafen zu schauen, vor dessen imposanter Kulisse das Objekt der Begierde leise surrend heranschwebt. Ein ergreifender Moment für Josef Kallo und sein Team. Das ist überwältigend, da steckt so viel Arbeit drin”, sagt er. “Auf diesen Augenblick haben wir alle sehr lange hingearbeitet.”
“HY4” heißt das knapp sieben Meter lange Fluggerät, zu dessen offiziellem Erstflug und Weltpremiere das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) zum Stuttgarter Flughafen geladen hat. Das Namenskürzel spricht sich so wie das gegenseitige Abklatschen mit der flachen Hand, High five, was zum Gratulationsreigen an diesem Tag bestens passt. Nur, dass in diesem Fall eine andere Zahl am Ende steht: “High four”. Die Vier zeigt dabei an, wie viele Passagiere gleichzeitig mit dem futuristisch anmutenden Flieger befördert werden können. Das “HY” wiederum steht für die lateinische Bezeichnung des Treibstoffs im Tank: reiner Wasserstoff. Denn die tatsächliche Revolution liegt nicht etwa in der unkonventionellen Gestalt des Fliegers, der ein wenig an einen Katamaran erinnert. Es ist vielmehr der Antrieb, der die schneeweiße Maschine mit ihren zwei Rümpfen, die mit einem gut 20 Meter langen Flügel verbunden sind, zu etwas ganz Besonderem macht: Dem weltweit ersten Passagierflugzeug mit vier Plätzen, das ausschließlich von Brennstoffzellen angetrieben wird. “Diese Entwicklung wird die Art des Fliegens nachhaltig verändern”, sagt Josef Kallo.
Der 44-jährige Wissenschaftler ist eine Art moderner Otto Lilienthal, der sich wie einst der legendäre Luftfahrt-Pionier voll und ganz der Fliegerei verschrieben hat. Passion und Profession sind bei dem Professor eng miteinander verbunden, so wie die beiden Rümpfe seiner Maschine. Unter seiner Führung wurde das Brennstoffzellen-Flugzeug entwickelt, die Idee dazu hatte er schon lange mit sich herum getragen. “Mit diesem Flugzeug wollen wir Elektromobilität in die Luft bringen, die Machbarkeit dieser Technologie demonstrieren und konkrete Anwendungsfelder im Passagiertransport aufzeigen”, sagt Kallo, der schon seit über zehn Jahren am DLR-Institut für Technische Thermodynamik in diesem Bereich forscht und das Projekt HY4 leitet. Seit September 2015 ist er zudem Chef des Instituts für Energiewandlung und -speicherung an der Uni Ulm. Dazu ist Kallo selbst ein leidenschaftlicher Pilot, der schon fast überall seine Runden gedreht hat – von Alaska über die Bermudas bis nach Südamerika. Seine Hausroute führt über die Alpen. Als nächstes Ziel hat er Japan auf dem Radar.
Über den Wolken ist dem Ingenieur schon so manche Idee gekommen, auch jene vom sauberen Fliegen ohne Reue, wie er es nennt. Er ist fasziniert von der Technologie, die es ermöglicht, Busse, Autos, Flugzeuge und andere Transportmittel ohne jegliche Emissionen anzutreiben. Das Prinzip einer Brennstoffzelle basiert dabei auf einer simplen elektrochemischen Reaktion: Wasserstoff wird in Protonen und Elektronen aufgespalten, das einzige Abfallprodukt ist reines Wasser, das man problemlos trinken könnte, so Kallo. Im Antriebsstrang der HY4 stecken vier solcher Brennstoffzellen, die aus Wasserstoff und Luftsauerstoff den nötigen Strom erzeugen, mit dem wiederum ein 80-Kilowatt-Elektromotor angetrieben wird. Beim Start und bei Steilflügen wird der Antrieb zusätzlich von Hochleistungsbatterien unterstützt, die für die notwendige Schubkraft sorgen. Den Reisebetrieb übernehmen aber ausschließlich die Brennstoffzellen, die von einem Wasserstofftank an Bord gespeist werden. Fällt eines der Systeme aus, übernimmt das andere.
Je nach Flughöhe, nach Gesamtgewicht und Reisegeschwindigkeit kann die HY4 bis zu 1.500 Kilometer weit fliegen, mehr geht momentan noch nicht am Stück. Für das Einsatzgebiet, das Josef Kallo vorschwebt, sind weitere Strecken aber auch gar nicht notwendig. “Aus unserer Sicht eignet sich diese Art von Flugzeug ideal als Air Taxi, um Regionalflughäfen besser zu vernetzen oder mit größeren Flughäfen zu verbinden”, erklärt der Vordenker, der viele solcher Routen durchgerechnet hat. Von Stuttgart nach Friedrichshafen beispielsweise, von dort könnte es weiter nach Freiburg und Mannheim gehen. Ein Tankstopp wäre nicht notwendig. Für die Strecke Stuttgart-Friedrichshafen hat Josef Kallo 32 Minuten für sein Air Taxi veranschlagt, der Verbrauch auf einem solchen Flug liegt bei etwa 400 Gramm Wasserstoff. Großzügig gerechnet kommen dabei fünf Euro Tankkosten pro Fluggast zusammen, sagt Kallo, der sich ein ganzes Netz solcher Verbindungen in Baden-Württemberg vorstellen könnte, für das vier, fünf Tankstellen im Land ausreichen würden. Am Stuttgarter Flughafen gibt es bereits eine solche Wasserstoff-Tankstelle. “Einmal voll machen dauert ganze zehn Minuten”, sagt Kallo. Momentan wird der Treibstoff mit einem Druck von 350 bar zusammengepresst, also dem 350-fachen der Erdatmosphäre am Boden. Schon bald sollen es 700 bar sein, was die Reichweite weiter erhöhen würde.
Zu den Partnern aus Industrie und Forschung, die an dem ambitionierten und viel beachteten Projekt beteiligt sind, gehören neben dem DLR und der Universität Ulm auch der Flughafen Stuttgart, der kanadisch-belgisch-deutsche Brennstoffzellenhersteller Hydrogenics sowie der slowenische Flugzeugbauer Pipistrel. Die HY4 basiert in großen Teilen auf dem Doppelrumpfmodell Taurus G4, mit dem das Unternehmen aus Slowenien bereits die Green Flight Challenge für extrem sparsame Flugzeuge gewonnen hat. So erklärt sich auch die ungewöhnliche Form des DLR-Forschungsflugzeugs, das aus den Rümpfen, Leitwerken und Tragflächen verschiedener Modelle und Segelflugzeuge zusammengebaut wurde, um auf diese Weise Entwicklungskosten zu sparen.
Herausgekommen ist nach viel Tüftelei im DLR-Labor ein Prototyp, in dem Projektleiter Kallo eine “optimale Plattform” sieht, um den Einsatz der Brennstoffzelle in der Luftfahrt weiterzuentwickeln. Derzeit schafft die Maschine mit ihren 80 Kilowatt eine Höchstgeschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde. Das Ende der Fahnenstange ist dabei aber noch längst nicht erreicht. “Wir stehen derzeit noch ganz am Anfang und haben das Potenzial, bei überschaubarem Aufwand noch viel mehr Leistung herauszuholen”, sagt der Wissenschaftler, der schon seit vielen Jahren Brennstoffzellenantriebe entwickelt. Angefangen hat er damit beim Automobilkonzern General Motors, für den Kallo acht Jahre lang gearbeitet hat. Zuvor hatte er Elektrotechnik an der Universität Stuttgart studiert, was keinesfalls eine Selbstverständlichkeit für den jungen Mann aus Rumänien war. In Temeswar geboren und aufgewachsen, hat er im Alter von 15 Jahren mit einem Koffer und vielen Schulden seine Heimatstadt verlassen, um nach Deutschland auszuwandern. Als Kind einer deutschstämmigen Familie habe er weder die Schule aussuchen noch studieren dürfen, erzählt er. “In Rumänien hatte ich damals keine Zukunft.”
Heute hat er mit der Familie längst in der schwäbischen Metropole Stuttgart seine neue Heimat gefunden, von hier aus startet er auch viele seiner Flüge. Wenn er so seine Runden über der Landschaft dreht, führt ihm die einzigartige Schönheit der Natur auch vor Augen, welche Verantwortung die Heutigen für die nachkommenden Generationen haben. “Wir sind verantwortlich für den Planeten und was mit ihm passiert. Unsere Aufgabe ist es, etwas zu unternehmen”, betont er. In seinem Brennstoffzellen-Flugzeug sieht der Familienvater die Chance, tatsächlich etwas zum Besseren zu verändern, eine Grenze zu verschieben. “Wir müssen es schaffen, von der fossilen auf eine umweltfreundliche Technologie umzustellen”, sagt er: “Dieser Gedanke treibt mich massiv an.”
Die Neuentwicklung aus dem DLR-Labor im Stuttgarter Pfaffenwaldring soll dabei helfen, die Luftfahrt sauberer zu machen, was dringend notwendig ist. Denn der weltweite Flugverkehr wird nach Einschätzung der Experten auf lange Sicht boomen, die damit verbundene Belastung für die Umwelt damit weiter steigen. Prognostiziert wird derzeit ein jährliches Plus von fünf Prozent – und das bis mindestens zum Jahr 2034. Gleichzeitig will der Luftfahrtsektor schon ab dem Jahr 2020 nur noch ohne zusätzliche CO2-Emissionen wachsen, im aktuellen Weltklimavertrag ist die Luftfahrt allerdings genauso wenig berücksichtigt wie der Schiffsverkehr.
Meist stehen die Autos am Pranger, wenn über Abgase und Luftverschmutzung diskutiert wird. Wie umweltschädlich der weltweite Flugverkehr ist, wird darüber oft vergessen. Dabei produziert eine einzige Boeing 747 fast eine Tonne Kohlendioxid – und das allein beim Start. Vom globalen Kohlenstoffbudget, das der Menschheit zum Erreichen eines 1,5-Grad-Ziels bei der Erderwärmung bleibt, wird die Luftfahrt bis zum Jahr 2050 mindestens zwölf Prozent verbrauchen. Und das auch nur für den Fall, dass alle selbst gesteckten Ziele erreicht werden. Ansonsten könnten es aus Sicht der Analysten auch bis zu 30 Prozent werden.
Der Gedanke daran ist Antrieb genug für den passionierten Forscher und Piloten Kallo, der überzeugt davon ist, mit dem Elektroflieger HY4 die richtige Route eingeschlagen zu haben. Er sieht darin ein Einstiegsszenario für elektrisches Fliegen im deutschen und europäischen Regionalverkehr, das einen Paradigmenwechsel einläuten soll. Mit mehr als 60 regionalen und internationalen Flughäfen verfüge Deutschland über ein gut ausgebautes und großflächig verteiltes Netz, um diesen Ansatz zu verwirklichen, sagt er. Auch der langjährige Stuttgarter Flughafenchef Georg Fundel, inzwischen im Ruhestand, der als Hausherr zu dem Premierenflug im vergangenen September eingeladen hatte, glaubt an die Kraft und Nachhaltigkeit dieser Technologie, wie er bei seiner Ansprache am Stuttgarter Airport betont hat. “In spätestens 50 Jahren”, so Georg Fundel, “werden unsere Reden nicht mehr von startenden Flugzeugen unterbrochen werden.”
Und auch in anderen Kreisen gilt der futuristische Flieger als bedeutender Schritt auf dem Weg zu sauberem und leisem Fliegen. Sie sei stolz darauf, dass europäische Forscher und Hersteller dieses Flugzeug verwirklicht haben, erklärte die Verkehrskommissarin der Europäischen Union, Violeta Bulc, nachdem die Maschine gelandet war. “Dieses Projekt verkörpert die Zukunft des emissionsfreien Fliegens.” Mit vier Plätzen ist der Prototyp zwar noch einigermaßen klein geraten. In den nächsten fünf bis zehn Jahren könnten derart betriebene Lufttaxis aber sicherlich acht bis zehn Fluggäste emissionsfrei befördern, versichert Josef Kallo. Den Weg ebnen sollen möglichst viele Erprobungsflüge, um so wichtige Daten und Erkenntnisse zu sammeln. Zudem hält es der Forscher für wahrscheinlich, dass in den nächsten 25 Jahren ein 40-Sitzer mit einer Reichweite von bis zu 1.000 Kilometern entwickelt werden könnte. “Die heutige Technologie gibt das bereits her”, sagt Josef Kallo, der dieses Flugzeug bereits als Vision am Horizont sehen kann. Zu hören ist es nicht.
Text: Markus Heffner
INFO: Höchstgeschwindigkeit liegt bei 200 km/h
Mit einer Spannweite von 21,36 Metern und einer Länge von 7,40 Metern hat das Passagierflugzeug HY4 eine überschaubare Größe. Der Antriebsstrang der HY4 besteht aus einem Wasserstoffspeicher, einer Niedertemperatur-Wasserstoffbrennzelle und einer Hochleistungsbatterie. Die Brennstoffzelle wandelt die Energie des Wasserstoffs direkt in elektrische Energie um. Als einziges Abfallprodukt entsteht dabei sauberes Wasser. Der Elektromotor, der den Propeller des Flugzeugs antreibt, bringt es auf eine Leistung von 80 Kilowatt und ermöglicht eine Höchstgeschwindigkeit von rund 200 sowie eine Reisegeschwindigkeit von 165 Kilometern pro Stunde. Abhängig von Geschwindigkeit, Flughöhe und Zuladung ist eine Reichweite zwischen 750 und 1.500 Kilometern möglich. Auffallendes Merkmal der HY4 sind ihre zwei Rümpfe, die über den Flügel fest miteinander verbunden sind. In jedem der beiden Rümpfe haben zwei Passagiere Platz. Das Maximalgewicht der HY4 beträgt 1.500 Kilogramm. (Quelle: DLR)
Dieser Text ist dem Magazin “nemo – Neue Mobilität in der Region Stuttgart” entnommen, das Sie auf Issuu online lesen können.