Die Stadt der Ehrenbürger

Turmwächter und Nachtwanderer, Vorlesepaten und Bürgermentoren: In Nürtingen ist jeder Zweite ehrenamtlich engagiert - ein deutscher Spitzenwert. Ein Besuch in der Heimat der Nächstenliebe.

© Christoph Pueschner
Die Stadt im Blick: Gundis Eisele führt Besucher auf den Turm der Stadtkirche - ehrenamtlich.rnDen Nachwuchs nicht aus den Augen verlieren: Die Nachtwanderer sprechen Nürtinger Jugendliche auf der Straße an.rnDie Nachtwanderer in Nürtingen. (Fotos: Christoph Püschner/Zeitenspiegel)
+2
© Christoph Pueschner
Deutschland, Baden-Wuerttemberg, Nuertingen, Personen v. links: Johannes Jahn (52 Jahre, Wohnungsverwalter bei d. Stadt Nuertingen), Elisabeth Pfinder-Nohe (63 Jahre, ehemalige Krankenschwester im Vorruhestand) und Gabriele Dueregger (47 Jahre, Erzieherin), 14.12.2012 (c) 2012 Christoph Pueschner / Zeitenspiegel
© Christoph Pueschner
Deutschland, Baden-Wuerttemberg, Nuertingen, zusammen mit seinen zwei Kolleginnen kuemmert sich Nachtwanderer Johannes Jahn (52 Jahre, 4. Person v. rechts) um eine Gruppe Jugendlicher, die an einer Tankstelle herumstehen, 14.12.2012 (c) 2012 Christoph Pueschner / Zeitenspiegel

Fünf Besucher sind Gundis Eiseles Einladung auf den Turm der spätgotischen Stadtkirche an diesem Sonntag gefolgt. Nicht gerade viel, aber davon lässt sich die quirlige 70-jährige Rentnerin nicht die Laune verderben. “Sie müssen mal an Weihnachten kommen, da können sie hier einen Ampelverkehr einrichten”, sagt sie in breitem Schwäbisch. Einmal im Monat steigt sie die 189 Stufen auf den Kirchturm und erzählt Besuchern Anekdoten aus der Geschichte des Bauwerks. Ehrenamtlich.

“Turmwächterin”, das ist nur eines ihrer fünf Ehrenämter. Unter der Woche leitet sie die “Selbsthilfegruppe Arthrose” und bietet “Wohlfühlnachmittage” für Senioren an. Zweimal im Monat lädt sie zu ihrer Gruppe “Gemeinsam statt einsam”. Und jeden Mai organisiert sie ein Fest für bis zu 500 Senioren, singt mit ihnen Volkslieder, kümmert sich um eine Tanzgruppe und um eine Preisverleihung. All das, ohne einen Cent dafür zu bekommen.

Gundis Eisele gehört zu den 49 Prozent der Nürtinger, die laut einer Umfrage von 2009 ein Ehrenamt ausüben. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 36 Prozent, laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums aus demselben Jahr. Warum sind die Menschen in dieser Stadt nur so ausgesprochen hilfsbereit? Liegt es daran, dass die Vereinskultur in Schwaben auf eine lange Geschichte zurückblickt? Dass die Menschen hier geselliger sind als anderswo?

“Wir machen halt das, was uns Spaß macht”, sagt Gundis Eisele. Für sie bedeutet ein Ehrenamt nicht nur, etwas zu geben; sie bekommt auch viel zurück. “Ich finde es schön, gebraucht zu werden”, sagt sie und schließt die Fensterläden im Kirchturm für heute. “Mögen Sie einen Pfefferminz für unterwegs?”, fragt sie, bevor sie die Stufen der Wendeltreppe nach unten huscht.

40.000 Menschen leben in Nürtingen, das sich vor den Toren Stuttgarts an den Neckar schmiegt. Eine Mauer aus dem Spätmittelalter umschließt die Altstadt, die Fachwerkhäuser stehen eng beisammen. Grüne Hügel legen sich wie ein Band um den Ort. Das “Städtle” ist stolz auf Friedrich Hölderlin und Harald Schmidt, seine Kunstakademie, seine Hochschule für Wirtschaft und Umwelt. Die eigentliche Attraktion aber ist sein großes bürgerschaftliches Engagement: ganze 67 Selbsthilfegruppen gibt es, 14 Bürgerbeteiligungsforen und mehr als 100 ausgebildete Bürgermentoren, die zwischen Gemeinderat, Verwaltung und Einwohnern vermitteln. Dazu kommen ein Jugendrat, Nachtwanderer, Stadtteilmütter und Vorlesepaten. Selbst die Angestellten der Kommune haben den Überblick über das bunte Heer der Ehrenamtlichen verloren.

“Man muss den Bürgern zeigen, dass sie ernst genommen werden, wenn man will, dass sie sich engagieren”, sagt Hannes Wezel. Der drahtige 59-Jährige mit der randlosen Brille gilt als einer der Väter des Nürtinger Erfolgsmodells. Er setzt sich seit bald 35 Jahren für mehr Bürgerengagement ein und ist mittlerweile Referent der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg. Als 1991 in Nürtingen ein neues Rathaus gebaut wurde, kam Wezel die Idee, einen “Bürgertreff” einzurichten – einen Ort für die Engagierten der Stadt. Der Vorschlag fand Gehör, die Pläne wurden um ein Freiwilligenzentrum erweitert. Die Keimzelle des Nürtinger Engagements war geschaffen. Bis heute treffen sich hier Bürgermentoren und Selbsthilfegruppen, es gibt Kurse und Fortbildungen für Ehrenamtliche.

“Engagement schafft Transparenz und hilft, Bürger und Verwaltung einander anzunähern”, sagt Nürtingens Oberbürgermeister Otmar Heirich. Er klingt überzeugt, auch wenn er den Preis einer aktiven Bürgerschaft kennt: Mitunter erschwert sie einem das Regieren. Als Pläne publik wurden, dass auf einem weitläufigen Gelände am Neckarufer mehrgeschossige Wohnhäuser errichtet werden sollen, taten sich viele Nürtinger zusammen, demonstrierten, sammelten Unterschriften. Der Wind der Mitsprachewilligen blies dem Stadtoberhaupt ins Gesicht.

“Manche verstehen nicht, dass Beteiligung kein Wunschkonzert ist”, sagt Otmar Heirich. Man könne eben nicht alle Meinungen berücksichtigen. Letztlich müsse eine Entscheidung her und im Fall des Grundstücks beschloss der Gemeinderat: Es wird gebaut. Der Streit um das Areal schwelt dennoch weiter über der Stadt. “Es ist eben nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen”, sagt Heirich. Und doch verwendet er gern das Wort “Bürgerkommune”, wenn er von Nürtingen spricht.

Es ist Abend geworden über der Stadt und Johannes Jahn, 53, zieht einen der blauen Fleecepullover über, den die Nachtwanderer auf ihren Rundgängen tragen. Jahn ist einer von den sieben Freiwilligen, die freitags und samstags die Plätze ablaufen, an denen sich Jugendliche treffen – zum Quatschen, Trinken, Partymachen. Heute wandern Jahn und seine Mitstreiter vom Marktplatz zum Busbahnhof und schließlich zum Parkhaus, wo sie eine Gruppe Jugendlicher treffen. Man kommt ins Gespräch.

“Du trägst aber schöne Ohrringe!”, sagt eine Nachtwandererin zu einem 18-jährigen Mädchen, das auffallend viel Schminke im Gesicht trägt und Glitzer-Creolen an den Ohren. Schon kommt ein Gespräch über das Fernsehprogramm vom Vorabend in Gang. Johannes Jahn erkundigt sich bei einem Jugendlichen, den er von früheren Rundgängen kennt, nach einer anderen Clique. “Die trinken soo viel”, stöhnt Sven. “Wir bleiben lieber weg von denen, dann gibt’s keinen Stress.”

“Es ist wichtig, dass die Jugendlichen einen Ansprechpartner haben”, sagt Jahn, selbst Vater zweier erwachsener Söhne. Wie Gundis Eisele, die Turmwächterin der Stadtkirche, sieht er sein Engagement aber nicht nur als gute Tat. Auch die Aktiven selbst profitierten vom Programm, man lerne Leute kennen, tausche sich aus. Auf einer Tour hat Jahn, damals alleinstehend, Gabriele Düregger, 47, kennengelernt. Sie war ebenfalls bei den Nachtwanderern aktiv. Heute leben die beiden zusammen.

Text: Esther Göbel