Der rot-weiß gestreifte Leuchtturm steht nicht ganz zufällig auf dem geräumigen Schreibtisch von Martin Kaufmann. Er hat ihn zu seinem Amtsantritt als Rudersberger Bürgermeister von einem guten Freund und politischen Wegbegleiter geschenkt bekommen, ein weitsichtiges Präsent mit Symbolcharakter. “Er soll mir helfen, nicht den Überblick zu verlieren und immer wieder zum Ausgangspunkt zurückzufinden”, sagt der Rathauschef, der sich als solcher um die Belange von knapp 11.100 Einwohnern zu kümmern hat.
Die pittoreske Gemeinde am westlichen Rand des Welzheimer Waldes markiert den geografischen Mittelpunkt des Rems-Murr-Kreises, obendrein ist sie gesegnet mit reichlich Natur. So liegen hier im Wieslauftal die größten zusammenhängenden Streuobstwiesen in der gesamten Region Stuttgart, was Rudersberg zum Ort mit dem prozentual höchsten Anteil solcher Obstwiesen mit ihren Kleinbiotopen in ganz Deutschland macht. Inmitten dieses ländlichen Idylls ist nun ein Verkehrsprojekt realisiert worden, das landesweit einzigartig ist und so gesehen gut passt zur Symbolik auf Bürgermeister Kaufmanns Tisch: “Wir haben hier zweifelsohne ein Leuchtturmprojekt durchgesetzt, das Strahlkraft haben kann für das ganze Land”, sagt Kaufmann, der höchstselbst die Idee dazu beigesteuert hat.
Herzstück des Modellprojekts ist die Straße, die frisch gepflastert direkt vor dem Rudersberger Rathaus liegt und verdächtig an eine weitläufige Fußgängerzone erinnert. Auf den abgesenkten Gehwegen findet sich im Gegensatz zu früher reichlich Platz für Tische und Stühle, worüber sich neben anderen Gastronomen auch der Besitzer des Dolce Vita freut, der Eisdiele gegenüber. Es gibt neue Bänke, die zum Verweilen einladen. Und es fehlt auch nicht an einem breiten Zebrastreifen, der über die Straße hilft, auf der weithin sichtbar Tempo 30 angeordnet wird. In Wahrheit handelt es sich allerdings um eine rege befahrene Durchgangsstraße, die Landstraße 1080 genaugenommen, die auf ihrem Weg zwischen Backnang und Schorndorf direkt durch die Rudersberger Ortsmitte führt. Bis zu 10.000 Fahrzeuge werden hier täglich gezählt, der Anteil des Schwerlastverkehrs liegt bei sieben Prozent.
Fast 500 Meter der Straße sind im vergangenen Winter umgebaut worden, statt des üblichen grauen Asphalts wurden Pflastersteine verlegt und die einst viel zu schmalen Gehwege sind nun um einiges breiter. “Ziel war, den Verkehr zu beruhigen und unsere Ortsmitte wieder attraktiver zu gestalten”, sagt Kaufmann, dessen Parteibuch ihn als Sozialdemokraten ausweist. Als solchen beschäftigt ihn schon seit vielen Jahren der Gedanke des Shared Space, wie er sagt, also die Gestaltung öffentlicher Räume, in denen alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind. “Die Straße ist ein sozialer Raum, der allen gleichermaßen gehört und gemeinsam genutzt werden kann”, sagt er. “Der Verkehr muss verträglich gestaltet werden und es braucht ein geordnetes Miteinander zwischen Fußgängern und Autofahrern.”
Gleichzeitig soll das ehrgeizige Straßenbauprojekt auch helfen, Lärm und Schadstoffe zu reduzieren, also vor allem den Ausstoß von umweltschädlichem CO2. Denn der Bürgermeister sieht die neu gestaltete Ortsmitte auch als Impulsgeber für eine neue Ära der Mobilität in seiner Gemeinde, die künftig wesentlich nachhaltiger gestaltet werden soll als bisher. Ein Elektroauto und zwei E-Bikes gehören derzeit bereits zum Fuhrpark der Gemeindeverwaltung, weitere Dienst-Stromer sollen in absehbarer Zeit folgen. Vor allem aber werden auf Initiative des Bürgermeisters zwei strombetriebene Autos für den Carsharingbetrieb angeschafft, dazu noch vier Pedelecs zum Ausleihen nebst nötiger Infrastruktur an Ladestationen. “Im ländlichen Raum, in dem die Menschen anders als in der Stadt unbedingt auf ihr Auto angewiesen sind, ist die Akzeptanz dieser Technologie noch nicht so groß”, sagt er. “Das wollen wir ändern.”
Knapp 127.000 Euro sind für das Vorhaben kalkuliert worden, die Hälfte davon stellt der Verband Region Stuttgart im Rahmen des im März 2012 beschlossenen Programms “Modellregion für nachhaltige Mobilität” zur Verfügung. “Viele unserer Bürger wissen noch nicht so richtig, wie ein Elektroauto fährt. Wir wollen ihnen die Gelegenheit geben und sie dafür begeistern”, sagt Rathauschef Martin Kaufmann, der neben seinem Amt als Schultes auch Initiator und Sprecher der interkommunalen Initiative für stadtverträglichen Straßenbau (ISS) ist. Neben Rudersberg gehören derzeit auch noch die Kommunen Esslingen, Filderstadt, Leonberg, Tübingen, Ulm, Karlsruhe, Konstanz sowie der Verband Region Stuttgart zu dem Kreis. “Wenn zwei, drei Elektroautos durch den Ort fahren, merkt das kaum jemand”, sagt Kaufmann. “Wenn eine Straße plötzlich ganz anders aussieht und sich ein anderes Miteinander ergibt, ist das für jeden spürbar.”
Den Verkehrsraum sozial verträglich zu gestalten, ist für Kaufmann ein wesentlicher Bestandteil der nachhaltigen Mobilität, die er nicht nur auf den Antrieb unter der Motorhaube reduziert haben möchte. “Auch der Raum muss den Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt entsprechen, er muss eine hohe Aufenthaltsqualität haben”, sagt der umtriebige Bürgermeister, der sich für die mobile Zukunft seiner Kommune den griffigen Slogan “Voller Energie” erdacht hat, der nun unter anderem auch an den Türen des städtischen Stromers klebt.
Ein Motto, das bestens auch zu ihm selber passt. Im niedersächsischen Goslar aufgewachsen, besuchte er nach seinem Hauptschulabschluss zunächst eine Abendrealschule. Nach absolviertem Fachhochschulabschluss und einer Ausbildung zum Bürokaufmann schrieb sich der heute 48-jährige Verwaltungswirt dann noch für ein Studium an der Fachhochschule für kommunale Verwaltung in Braunschweig ein, an der er hinterher viele Jahre in Wirtschaftsmathematik, Betriebswirtschaftslehre und anderen Disziplinen doziert hat. Nach seiner Zeit als Kämmerer in der Gemeinde Tuningen wurde Kaufmann im Juli 2007 zum Bürgermeister der Gemeinde Rudersberg inmitten des beschaulichen Rems-Murr- Kreises gewählt. Vor drei Jahren hat er sich noch einen weiteren Traum erfüllt und den Pilotenschein gemacht. Wann immer es sein Terminkalender zulässt, kreist er seither an den Wochenenden mit einer Cessna über der Region und über seiner Kommune.
Die Perspektive von oben hilft ihm dabei, die Dinge bisweilen mit etwas Abstand zu betrachten – was ihn derzeit auch stolz macht, wie er sagt. Respektable 3,3 Millionen Euro hat der Umbau der Straße gekostet, dazu hat es nicht wenig Überzeugungsarbeit und Durchsetzungsvermögen bedurft. “In unserer Ortsmitte haben wir jetzt zwar nicht zu hundert Prozent die Philosophie des Shared Space umgesetzt”, sagt Rathausvorsteher Kaufmann. “Die offene Gestaltung macht den Straßenraum nun aber einiges lebenswerter und sicherer.”
Immerhin hat sich das Land mit rund 570.000 Euro an dem Umbau beteiligt, allerdings nur, weil die Straße ohnehin saniert werden musste. Die Pflastersteine, so Martin Kaufmann, habe die Kommune selber bezahlt. Dafür liegen schon jetzt Anfragen aus dem ganzen Land vor, von Bürgermeisterkollegen und Delegationen, die sich die Rudersberger Vorstellung von Mobilität vor Ort ansehen wollen. Wenn es nach Kaufmann geht, soll das Beispiel durchaus Schule machen und auch in anderen Städten umgesetzt werden. Etwa in Leonberg, wo sich täglich 40.000 Fahrzeuge durch die Ortsmitte schieben. Ohnehin sollten Kommunen auch bei Landstraßen wesentlich stärker in die Gestaltung einbezogen werden, findet der Bürgermeister. “Der Ortskern ist das Wohnzimmer einer Gemeinde – und dort muss man sich wohl fühlen.”