Aus der Lymphe der handtellergroßen "Meguratha crenulata" kann ein blauer Blutfarbstoff gewonnen werden, aus dem im Labor der Krebswirkstoff "Keyhole limpet hemocyanin (KLH)" gewonnen wird, der für die Therapie des Harnblasenkarzinoms unersetzlich ist. Für die Fellbacher biosyn GmbH, die sich auf die Herstellung von Arzneimitteln für die Krebs- und Intensivmedizin spezialisiert hat, ist die "Tumortherapie aus dem Meer" seit 20 Jahren eines der wichtigsten Projekte. Im 20. Jahr seines Bestehens beschäftigt das Unternehmen weltweit mehr als 80 Mitarbeiter und darf sich zu den führenden mittelständischen Pharmaunternehmen zählen. biosyn hat neben 30 weiteren viel versprechenden Präparaten auch das mögliche SARS-Mittel Fiblaferon im Programm. Bei den Olympischen Spielen in Athen unterstützte die biosyn GmbH die deutschen Athleten mit Vitaminen und Mineralstoffen. Dafür darf sie sich bis zum Jahresende als "Lieferant der deutschen Olympiamannschaft" bezeichnen.
Um aus der Meguratha crenulata den Rohstoff für den Krebswirkstoff "Immunocyanin" zu gewinnen, hat biosyn in Fellbach lange Zeit eine eigene Meereswasseraquarienanlage unterhalten. Dort wurden die Schnecken, die Taucher auf dem Grund des Pazifiks eingesammelt hatten, nach der vorgeschriebenen Quarantäne unter pazifikähnlichen Bedingungen gehalten. Um das begehrte blaue Blut zu gewinnen wurden sie unter Kältenarkose punktiert und anschließend unbeschadet wieder ins Becken geworfen. Mittlerweile erfolgt dieser Schritt in den Laboratorien der kalifornischen Tochter biosyn Corporation. In Fellbach wird die Schneckenlymphe biotechnologisch gereinigt und aufbereitet.
Arznei aus dem Meer hilft gegen Harnblasenkrebs
Ziel der Fellbacher Biotechnik-Pioniere ist jetzt die gentechnische Herstellung des Wirkstoffs Immunocyanin. Die Gensequenz der Schnecke wurde aufgeschlüsselt und zum Patent angemeldet, erste Teilstrukturen des Moleküls wurden bereits gentechnisch erzeugt, so dass in absehbarer Zeit mit der großtechnischen Herstellung dieses Wirk- und Trägerstoffes zu rechnen ist.
Immunocyanin ist eine Abwandlung des Blutfarbstoffs der kalifornischen Schlüssellochschnecke und hat wegen seines hohen Kupfergehalts eine blaue Farbe. "Ursprünglich stammte die Idee, den Schnecken die Lymphe zu entnehmen von einem amerikanischen Wissenschaftler, in Deutschland wurde sie von einer immunologisch orientierten Urologengruppe aufgegriffen", sagt biosyn-Geschäftsführer Dr. Thomas Stiefel. "Seit etwa 20 Jahren ist das nun unser Metier, wobei unsere Aufgabe in erster Linie darin bestand, aus diesem ungereinigten Protein eine als Arzneimittel verwendbare haltbare Substanz herzustellen und diese bis zur Zulassungsreife zu entwickeln."
Als Medikament ist Immunocyanin unter dem Warenzeichen Immucothel bereits in mehreren Ländern zugelassen, aus Holland und Österreich werden beachtliche und belegbare Erfolge gemeldet. Dort wird Immucothel dazu verwendet, dass sich nach einer Operation nicht mehr so häufig ein neuer Harnblasentumor bildet. Die Instillation, also das Einbringen von Immucothel in die Blase, führt zu einer ausgeprägten Anregung der Immunabwehr. Dies bewirkt eine deutliche Abwehrreaktion gegenüber den noch in der Blase verbliebenen Tumorzellen. "biosyn ist der weltweit einzige Anbieter, der dieses hochgereinigte Glykoprotein in der für den klinischen Einsatz erforderlichen Qualität herstellen kann", sagt Ortwin Kottwitz, ebenfalls Geschäftsführer der biosyn Arzneimittel GmbH. "Dennoch wartet biosyn immer noch auf die Zulassung für Deutschland."
Hoffnung für SARS-Patienten kommt aus Fellbach
Das mögliche SARS-Mittel "Fiblaferon" hat biosyn seit vielen Jahren im Programm. Es ist das einzige in Deutschland verfügbare Medikament, das gegen bestimmte Karzinome in den Luftwegen sowie gegen schwere unbeherrschbare Virusinfektionen wie Gürtelrose, Hirnhautentzündung oder Innenohrentzündung wirksam und auch zur Behandlung der Lungenkrankheit SARS zugelassen ist. "Angesichts der dramatischen Lage in Asien sahen wir uns verpflichtet, nachdrücklich auf die ermutigenden Behandlungsergebnisse mit Fiblaferon hinzuweisen", sagt biosyn-Sprecher Thomas Postina. Universitäre Studien belegten eine hohe Wirksamkeit gegen das Virus. Außerdem enthält Fiblaferon als einziges in Deutschland zugelassenes Medikament den natürlichen Eiweißwirkstoff Interferon Beta, einen Stoff, den Zellen abgeben, wenn Viren in sie eindringen. Das Interferon verteilt sich in den Nachbarzellen und verschlechtert dort die Lebensbedingungen für die Erreger bis sich die Viren nicht mehr vermehren können.
Bisher konnten SARS-Viren mit Fiblaferon nur im Reagenzglas gestoppt werden. Ob das Medikament auch im menschlichen Körper wirksam wird, muss noch getestet werden. Im Labor jedenfalls hat das Interferon Beta die Vermehrung der Viren in den Kulturen komplett verhindert. Dr. Thomas Stiefel: "Die Dosen, die dazu nötig sind, könnte man Menschen sofort verabreichen, denn sie entsprechen den Mengen, in denen das Medikament bei anderen Krankheiten bereits eingesetzt wird."
Nebenwirkungen von Chemotherapien reduziert, Wirksamkeit verbessert
Als eines der ersten Biotechnologie-Unternehmen in Deutschland arbeitet biosyn kontinuierlich an der Erweiterung seiner Produktpalette – und an einem soliden Wachstum. Rund 80 Mitarbeiter, 15 davon in der Forschung, kümmern sich um Herstellung und Vertrieb der Produkte sowie um die Zulassung und Einführung neuer Medikamente. Damit vereint biosyn die Unternehmensbereiche Marketing, Werbung, Vertrieb, Finanzen, Zulassung, Klinische Forschung, Produktion, Entwicklung biotechnologischer Herstellungsverfahren, die Kontroll- und Service-Labors und das Qualitätsmanagement unter einem Dach – was für ein mittelständisches Pharma-Unternehmen eher die Ausnahme ist.
Die aufwändige Forschung finanzierte biosyn von Anfang an durch Einnahmen aus der Vermarktung von patentfreien Medikamenten unter eigenem Namen, deren Zulassung biosyn erworben hatte. Diese Doppelstrategie ist bis heute die wirtschaftliche Grundlage des Unternehmenserfolgs. "Die Zulassung von Selen haben wir 1987 erwirkt", sagt Dr. Thomas Stiefel. "Sowohl in der Tumortherapie als auch in der Intensivmedizin spielt Selen eine zunehmend wichtige Rolle. In Pilotstudien wurde beispielsweise nachgewiesen, dass Natriumselenit die Sterblichkeit in der Folge von Blutvergiftungen merklich senken kann." Hinzu kommt, dass die Selentherapie die Nebenwirkungen von Chemo- und Strahlentherapien reduziert, gleichzeitig aber deren Wirksamkeit verbessert. In vielen europäischen Ländern ist das Selenpräparat bereits erhältlich, in den anderen Staaten steht seine Zulassung noch bevor. Dr. Thomas Stiefel: "biosyn ist führend bei Selenpräparaten, die in Tablettenform und als Trink- und Injektionsampullen angeboten werden."
Ausrichtung auf den Weltmarkt ist einer der Schlüssel zum Erfolg
Das duale Prinzip von Krankheitsheilung und Unterstützung der Selbstheilungsmechanismen steht bei biosyn für das Produktmanagement ganz vorne. "Jüngste Umfragen ergaben, dass mehr als 70 Prozent der Patienten zusätzlich zur Standardtherapie den Einsatz komplementärer Maßnahmen fordern", sagt Dr. Thomas Stiefel. "In Zukunft werden präventive Maßnahmen eine noch größere Rolle spielen, da durch den Rückzug der Krankenkassen jeder Einzelne genötigt wird, selbst mehr in seine Gesundheit zu investieren."
Ein weiterer Schlüssel für den Erfolg von biosyn ist die konsequente Ausrichtung auf den Weltmarkt. So wurde das erste Außenbüro bereits 1985 in Wien gegründet, die Intersyn AG in der Schweiz folgte 1993. Die biosyn Corporation in Kalifornien gibt es seit 1995; in Ägypten, Griechenland, Israel, Italien, Kanada, den Niederlanden, Tschechien, der Türkei sowie in Südamerika setzt biosyn auf Partner, die die Fellbacher Produkte nach ihrer länderspezifischen Zulassung in Lizenz vermarkten.
Vom 17. bis 19. September feiert die biosyn GmbH nun ihr 20-jähriges Bestehen. Politiker, Wissenschaftler und die Bevölkerung in und um Fellbach sind dabei. Eine Podiumsdiskussion über die Entwicklung der Biotechnologie, ein wissenschaftliches Symposium und ein Tag der offenen Tür stehen auf dem Programm. "Mit unserem Standort haben wir einen Glücksgriff getan", lobt Dr. Thomas Stiefel. Die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und anderen öffentlichen Einrichtungen sei überaus positiv und unbürokratisch. "Hoffentlich bleibt das auch die nächsten 20 Jahre so."