Sein Haar ist pfeffergrau wie der Nachmittag in Stuttgart. Ein Vorhang aus feinen Regentropfen hängt über der Stadt. Draußen ist Winter, drinnen ist Sommer, Vorname Hans, ein fröhlicher Abendländer, 68 Jahre und kein bisschen müde.
Ein Espresso, bevor er seine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Mannes, der klein angefangen hat und jetzt Aufsichtsratsvorsitzender einer weltweit agierenden Unternehmensgruppe ist, deren Zahlen für sich sprechen. Betreutes Jahres-Bauvolumen 6,6 Milliarden Euro, 1.050 Mitarbeiter, 137 Millionen Euro Konzernumsatz.
China, Russland, Türkei, Vietnam, Spanien, Italien Deutschland – das Leben von Hans Sommer ist konserviert in vielen Mauern und Großbauten. Aqua City Palace in Moskau, Silver Star Tower in Dubai, Potsdamer Platz in Berlin, Daimler in Möhringen.
Den Anfang macht Stuttgart. Hans Sommer wird 1941 geboren. Sein Vater ist Beamter beim Autobahnamt in der Jägerstraße. Der Bub treibt sich am Bahnhof auf ungenutzten Gleisen herum. Dort verhilft er nicht nur seinen Lederhosen zu speckig glänzender Patina, sondern sich selbst auch zur Erkenntnis, dass Stuttgart ein Tor zur Welt ist, wenn man es bloß richtig anstellt.
Beide Eltern sterben früh, weshalb die Gebrüder Sommer sechs Jahre auf dem Internat der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal verbringen. Mit 15 Halbwüchsigen teilen sich die beiden einen Schlafsaal. Hans Sommer, der ein schlechter Schüler ist, lernt eine wichtige Lektion: “Gemeinschaft macht stark.” Die Erzieher in Korntal sind hart und streng. Bei Verstößen verlangen sie von der Gruppe, den Übeltäter zu verraten. Ansonsten werden alle bestraft. Die Burschen im Internat halten in der Not zusammen.
Nach dem Abitur wird Sommer Bauingenieur und Architekt. Eher zufällig stößt er 1971 auf ein kleines Planungsbüro, in dem sich Gerhard Drees mit zwei Kollegen darauf spezialisiert hat, die Struktur von Bauabläufen zu entschlüsseln und genaue Terminpläne für Großprojekte zu erstellen. Netzplantechnik nennt sich die aus der Raumfahrt stammende Methode. Bei Polieren und Bauleitern kommt sie anfangs nicht gut an. Die ständigen Nachfragen kosten Zeit und überhaupt: Was soll das neumodische Zeugs?
Hans Sommer lernt schnell. Es dauert nicht lang, bis in ihm der Gedanke an ein anderes Problem aufsteigt, das einer Lösung harrt: die Kosten. Immer öfter liest er in der Zeitung von explodierenden Ausgaben bei Großbauten. Viele Architekten taxieren den Preis ihrer Gewerke über die Maßeinheit Kubikmeter umbauter Raum. Zwischen theoretischem Aufmaß und tatsächlichen Ausgaben liegen Welten.
Der Laden brummt, der Laden wächst. Das Stuttgarter Ingenieurbüro übernimmt Aufgaben von Bauherren in ganz Deutschland. Termine einhalten, Kosten überwachen. Projektmanagement wird salonfähig, und Hans Sommer ist in vielen Salons unterwegs. Als sich die Wende ankündigt, gerät in Berlin ein Platz in den Fokus, welcher den Geist der Geschichte atmet. Was den Londonern in den goldenen Zwanzigern ihr Piccadilly Circus, war den Berlinern der “Potsdamer”. Viel ist nicht übrig von ihm. Wer sich im Herbst 1989 auf dem Areal am Rand der Berliner Mauer umsieht, benötigt reichlich Fantasie, um sich vorzustellen, was hier früher war und mehr noch, was hier künftig sein könnte. Hans Sommer hat diese Fantasie.
Die Stuttgarter Unternehmensgruppe wird Teil eines gigantischen Projekts. Es geht um das neue Herz Berlins, und es geht um zwei Milliarden Euro. Zeitweise überwachen bis zu 200 Mitarbeiter die Bauleistungen am Potsdamer Platz. Sommer ist oft sieben Tage pro Woche unterwegs. Seine Frau, die sich um die beiden Söhne kümmert, sieht ihren Mann selten. Sie plant zu Hause die gemeinsamen Urlaube. “Manchmal habe ich erst am Flughafen erfahren, wohin die Reise geht”, sagt Hans Sommer und grinst. Einmal schließt sie im Hotel sein Geschäftshandy in den Safe. Die Zahlenkombination behält Inge Sommer für sich.
Es sind bewegte Zeiten. Eines Abends fliegt er von Berlin zurück ins Ländle, als zufällig ein hagerer Landsmann neben ihm sitzt. Gestatten Heinz Dürr, Bahnchef. “Was schaffet Sie?”, fragt er. Sommer erzählt von seinem Auftrag und hat wenig später den nächsten. Wieder geht es um Milliarden, und zwar dort, wo er als Kind gespielt hat. Am Bahnhof in Stuttgart.
Sommer wird Mitgesellschafter der DB Projekt GmbH Stuttgart 21 und einer der intimsten Kenner des milliardenschweren Bauvorhabens. “Das Ding war voll auf der Schiene”, sagt er im Rückblick. Bis der spätere Bahnchef Johannes Ludewig die Notbremse zieht und eine jahrelange Hängepartie beginnt. 2001 verkauft Sommer seine Anteile zurück an die Bahn. Im Gegenzug setzt er sich dafür ein, dass die Planer auch weiter in der Landeshauptstadt bleiben.
Lange her. Stuttgart 21 ist jetzt wieder auf dem Gleis, aber Sommer fährt nicht mehr mit. “Ich bin nach wie vor von Stuttgart 21 begeistert. Die Vorteile werden im Ausland ganz anders gesehen als bei uns. Das ist ein Geniestreich”, sagt er. Seine Firma ist als Projektsteuerer engagiert, er selbst hat andere Pläne. In Zeiten der Erderwärmung und sich zu Ende neigender Ölreserven reizt es ihn, ältere Bürogebäude zu sanieren und wieder marktfähig zu machen. “Ökonomie und Ökologie unter einem Dach”, sagt er als wäre es das elfte Gebot.
Seine Augen glänzen, wenn er davon schwärmt. Ein neues Thema. Wie früher kniet er sich hinein, auch wenn die Knie jetzt aus Titan sind. Was soll’s? Für vorauseilende Befunde vom Altwerden ist Hans Sommer nicht zu haben. Als Freunde neulich bei einem Geburtstag erzählten, dass sie sich in der Seniorenresidenz Augustinum eingekauft haben, wäre er am liebsten davongerannt. Seine Frau hat die Situation gerettet. “Wenn es bei uns soweit ist”, sagte sie, “dann kriegt er eine polnische Pflegerin und ich einen italienischen Chauffeur!”
Es ist spät geworden über der Geschichte von Hans Sommer. Sein nächster Termin steht an. Bevor er hinauf in sein Büro geht, trägt er die leere Espressotasse hinüber zur Spülmaschine der Cafeteria von Drees & Sommer. Einige Kollegen haben auf der Anrichte ihr dreckiges Geschirr stehen lassen. Hans Sommer räumt es ein. Wahre Größe offenbart sich im Kleinen.
Text: Michael Ohnewald
Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.