Das wandelnde Lexikon trägt ein kariertes Hemd unter dem grauen Pulli. An der Wand hängen Poster von Lisa Stansfield, Helene Fischer und Sido. Daneben sitzt an einem kleinen Tisch ein bescheidener Typ, der ein bisschen wirkt, als sei er aus der Zeit gefallen. Leise redet er über ein lautes Metier.
Hans-Peter Haag, Jahrgang 1954, kennt die Stuttgarter Arenen wie kaum ein anderer, und die Löwen, die in ihnen brüllen, die kennt er auch. Die älteren Exemplare sind ihm lieber. Sie sind in Ehren ergraut wie der Schnauzer unter seiner feinen Nase, aber sie haben noch immer diesen unvergleichlichen Sound, der nach Freiheit klingt oder was man sich darunter eben so vorstellt. Hans-Peter Haag ist ein Heutiger, der gerne im Gestern verweilt. Ein braver Rock ‘n’ Roller durch und durch, seit mehr als 40 Jahren.
Mit drei Freunden hat er 1977 in Stuttgart den Music Circus gegründet. Er ist noch übrig geblieben und führt den Laden längst alleine vom Büro am Charlottenplatz aus, das vollgestopft ist mit Ordnern. Zehn Mitarbeiter, ein Jahresumsatz von rund zehn Millionen Euro. “Das ist ein Geschäft geworden”, sagt er und klingt dabei wie Freddy Quinn, der lieber Freddy Mercury wäre.
In den Siebzigern hat sich Haag mit dem Veranstaltervirus infiziert. Ein Spätberufener der Musik war er damals, als sich die Jugend am Schachplätzle traf und Elvis noch lebte und der Himmel über dem Fasanenhof auf Dur gestimmt war. Die katholische Jugend, der er angehörte, schmiedete wilde Pläne für die Zukunft, die nach Deep Purple klingen sollte. “Smoke on the water.” Dafür fängt man am besten klein an, dachten sich die Halbwüchsigen, und gründeten einen Club namens “IG Freizeit”. Im Oktober 1971 organisierten sie im katholischen Gemeindesaal das erste Konzert. Die geladene Krautrock- Band hieß “Erna Schmidt” und kam aus Aalen für eine Gage von 400 Mark. Der Eintritt kostete drei Mark, und der Pfarrer im Fasanenhof fürchtete, dass es am Ende ein schlechtes Geschäft für die Gemeinde werden könnte, weshalb er die blutjungen Veranstalter dazu verdonnerte, pro Kopf 50 Mark zu hinterlegen. “Das Konzert lief gut und es blieb sogar was übrig”, erinnert sich Hans-Peter Haag. “Das war mein Einstieg.”
Haag nahm sein Studium als Bauingenieur in Stuttgart auf. Seine wahre Leidenschaft gehörte nicht den Linien auf dem Zeichenbrett, sondern den Linien der Notenliteratur jener Bands, die er nach Stuttgart lotste. Er stieg als Student ins Concertbüro ein und nutzte das Zeichenbrett am Institut, um mit Tusche hübsche Veranstaltungsplakate zu gestalten. Es gab damals reichlich Baustellen in der Landeshauptstadt, die im Umbruch war. Straßenbahnen verschwanden aus dem Stadtbild. Überall Bauzäune, überall seine Plakate. Das zweite Konzert der jungen Firma fand im Gustav-Siegle-Haus an der Leonhardskirche statt. Eine rote Eintrittskarte von damals hat Haag noch heute in seinem Büro. “Mittwoch 28.9.1977. Beginn 20 Uhr.” Das Mitnehmen von Tonbandgeräten in die Halle sei “grundsätzlich verboten”, steht klein auf der Eintrittskarte. Und darüber, etwas größer gesetzt: “Music-Circus presents AC/DC”. Damals freilich kannte die später kultigen Hardrocker kaum einer. Vielleicht hat Haag mit seinen Freunden deshalb auch irrtümlich “Punkrock aus Australien” aufs Plakat geschrieben. Trotzdem kamen 700 Zuschauer, die pro Kopf zehn Mark Eintritt zahlten. Lange her.
“Das Geschäft hat sich grundlegend verändert”, sagt er. Damals waren die Platten teurer als die Konzerttickets. Niemand hätte gewagt, das zu ändern. Heute muss man für eine Eintrittskarte von AC/DC schon mal 100 Euro hinblättern und die CD kriegt man schon für 12,99. “Die Plattenfirmen hatten damals eben einen ganz anderen Stellenwert”, sagt Haag, der mit seiner Firma heute bis zu 200 Konzerte im Jahr veranstaltet. Auf den Bühnen wird viel Geld verdient, an den Regalen der aussterbenden Plattenläden eher weniger.
Geblieben ist dem Popbetrieb das Risiko, das in aller Regel beim lokalen Veranstalter liegt. Manchmal legt man drauf, wie bei Avicii, einem schwedischen DJ, der schwer angesagt ist. Haag buchte ihn im vorigen Sommer für ein Open-Air-Konzert unterm Viadukt in Bietigheim. 9.000 Fans kamen, doppelt so viele wären reingegangen. “Das hatte ich zu optimistisch eingeschätzt”, grummelt Haag. Zum Glück gibt es auch die andere Seite. Sunrise Avenue ist dafür ein Beispiel. Die Band um den Finnen Samu Haber spielte vor wenigen Jahren noch in der Filderstädter “Filharmonie” vor 2.000 Leuten. Dann wurde der Frontmann bei der Show “The Voice of Germany” zum Publikumsliebling, und Haag verlegte das Konzert im Februar 2014 von der Porsche-Arena in weiser Voraussicht in die größere Schleyer-Halle, die mit 12.000 Plätzen im Handumdrehen ausverkauft war.
Als Konzertveranstalter muss Haag den Markt kennen, das Publikum und die Musik. Der Stuttgarter ist ein Meister seines Fachs, vor allem wenn es um die älteren Bands geht. Auf rund fünf Meter Länge erstrecken sich die gesammelten Langspielplatten in seiner Wohnung, bei den CDs kommt er auf mehr als zehn Meter. Devotionalien einer langen Karriere, die er wohl auch deshalb weitgehend unbeschadet durchgestanden hat, weil Haag ein bisschen anders ist als viele Rock ‘n’ Roller alter Schule. Er hat keinen Fernseher zu Hause, und ein altes Knochenhandy tut es ihm auch. Nach Feierabend liest er lieber ein gutes Buch, als sich schon wieder berieseln zu lassen mit dem neuesten Sound. Und überhaupt nimmt er sich nicht ganz so wichtig.
Vielleicht erklärt das eine weitere Kuriosität der Haag’schen Vita, nämlich jene, dass er im gleichen Gebäude mit Michael Russ sitzt, ebenfalls großer Konzertveranstalter. Statt sich zu bekriegen, arbeiten die beiden seit 1978 schiedlich-friedlich zusammen. “Wir sind uns kollegial verbunden und machen gemeinsam Handzettel für die anstehenden Konzerte”, sagt Haag. “Wir brauchen dafür nicht mal einen Vertrag.”
Mit den Jahren ist die Music Circus Concertbüro GmbH zu einem Generalisten geworden. “Von Punk bis Volksmusik, von Motörhead bis Ennio Morricone”, erzählt Haag und grinst. Dann gibt es auch noch den Weltweihnachtszirkus, den er seit vielen Jahren veranstaltet. Eine Herzenssache für den Patron. “Zirkus ist eine sympathische Welt”, sagt er. “Die meisten Artisten kommen ohne Allüren aus.” Das kann man nicht über jeden sagen in einer hektischen Branche, in der sich vieles wandelt und nicht alles zum Guten. “Ich erinnere mich an frühere Veranstaltungen besser”, sagt er, “weil das noch vor der Routine war.”
Was die neuen Themen und Strömungen betrifft, vertraut er verstärkt auf sein Team im Büro. 60 Jahre alt ist Hans-Peter Haag, da denkt man schon mal nach, ob alles so richtig war. “Ich habe es nicht bereut”, sagt der Bauingenieur im Rückblick. Auch wenn sich manches in seinem schillernden Metier verändert: Veranstaltungshallen zu konstruieren war nie sein Ding. Er füllt sie lieber mit Leben – auf seine Art.
Text: Michael Ohnewald
Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.