In Leidenschaft steckt das Leiden, und wenn man es genauer betrachtet, hängt das eine nicht selten mit dem anderen zusammen. Dirk Zedler kann davon ein Lied singen. Der Mann ist leidenschaftlicher Pedalritter. Sein Pferd ist das Stahlross und seine Mission die Überzeugung, dass die Mobilität von morgen weniger von vierrädrigen PS-Giganten und mehr von federleichten Hightech-Maschinen bestimmt sein sollte. Das Leid liegt darin, dass sich Menschen nicht so leicht umgewöhnen. Revolutionen dauern ihre Zeit in diesen Breitengraden. “Es ist zäh”, sagt Zedler. “Aber ich bin ausdauernd.” Bei ihm ist ein solcher Satz keine Drohung, eher ein Versprechen. 50 Jahre alt ist der Ingenieur und zwei Drittel davon beschäftigt er sich mit Rädern und ihrem technischen Potenzial. Mit der Zweiradmaterie ist es bei ihm wie mit dem Salzwasser. Je mehr man davon zu sich nimmt, desto durstiger wird man.
Es ist früher Nachmittag. Der Hausherr sitzt in seinem Büro vor einer Wand, an der drei Rennräder hängen. Sie haben ihm gute Dienste geleistet und stehen für die Evolution des Fahrrads, das bei immer mehr Technik immer noch leichter wird. Das älteste hat er sich 1985 gebraucht gekauft und damit seinen ersten Triathlon bestritten. Lange her. Damals konnte sich noch keiner vorstellen, dass Drahtesel unter Strom stehen, Berge zu Hügeln schrumpfen und in Ludwigsburg ein bundesweit gefragter Fahrradfetischist einen Jahresumsatz von einer Million Euro einfährt.
Man darf es wohl eine Erfolgsgeschichte nennen. Seine hat eine Botschaft. Die Botschaft von Dirk Zedler ist, dass man an eine Sache glauben muss, auch wenn es sonst keiner tut. Als er sich 1993 selbstständig machte, ist er zur Industrie- und Handelskammer nach Stuttgart gefahren. “Guten Tag, ich möchte öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Fahrräder werden”, sagte er. “Wer braucht das denn?”, konterte sein Gegenüber gelangweilt. In der Autoregion konnte man sich beim besten Willen nicht vorstellen, welches Potenzial in einer velophilen Zukunft schlummern sollte.
Als Triathlet kannte er sich aus mit schwierigem Gelände, und also strampelte er weiter. Woche für Woche. Tag für Tag. Bis sie ihn akzeptiert haben. Verdient hat er in der Anfangszeit nur wenig, gearbeitet umso mehr. Die Stunden, die zählen, sind die Stunden, die nicht gezählt werden. Die meisten Freunde aus seinem Studiengang hatten längst feste Anstellungen und monatliche Überweisungen ihrer Arbeitgeber. Er hatte nur diesen Traum.
Er war eher zufällig gereift. Nach Abitur und Bundeswehr studiert Zedler Kraftfahrzeugbau in Karlsruhe, wo die Professoren im Anzug durch die Stadt radeln. Er tut es ihnen gleich und schafft sich ein rostiges Vehikel an, mit dem er alle Strecken zurücklegt. Irgendwann fragt ihn jemand, ob er bei einem Triathlon mitmachen wolle. Das Schrauben beginnt. Als Autodidakt tüftelt er an seinem Sportgerät und baut die ersten Scheibenräder aus Glasfaser.
Ein solches Hobby kostet Geld. Der Student verdient es sich, indem er bei einem Radsportgeschäft in Ludwigsburg jobbt, wo ein Freund arbeitet. In der vorlesungsfreien Zeit radelt Zedler von Karlsruhe 85 Kilometer in die Barockstadt, arbeitet im Laden und fährt abends wieder zurück. Learning by doing.
Der Rest ist schnell erzählt. Nach dem Studium wird er Geschäftsführer in dem Radsportgeschäft, merkt aber bald, dass im Verkaufen nicht seine wahre Berufung liegt. Dirk Zedler fasst den Entschluss, Sachverständiger für Räder zu werden. Die Konkurrenz ist überschaubar, bundesweit gibt es nur zwei Kollegen. Pioniere haben es nicht leicht. In den ersten Jahren sponsern ihn die Eltern. Die ersten Gerichte wenden sich an den Fachmann, um Schadensfälle zu regulieren. Egal ob leichte Carbonrahmen oder schwere Sattelstützen, Fahrradverschleiß oder Materialermüdung: Der Ingenieur schaut genau hin. Fleißig baut Zedler ein gewaltiges Archiv auf. Er sammelt Tausende von Preislisten und Katalogen und kann fast jedes Fahrradmodell der letzten 30 Jahre in Ausstattung und Preis beschreiben. Immer mehr Versicherungen setzen auf seinen Rat. Je teurer die Räder werden, desto öfter versuchen findige Radler an ein neues Modell zu kommen, indem sie ihre Hausratversicherung bemühen. Nicht immer stimmen die Angaben über das Modell mit der Wirklichkeit überein.
Eine Fahrradzeitschrift kauft ihn als sachkundigen Werkstatt- Kolumnisten ein, Hersteller ordern verständliche Betriebsanleitungen. Die Aufträge kommen bald nicht nur aus der ganzen Republik, sondern auch aus Nachbarländern. Die technischen Dokumentationen für neue Modelle verfasst der Meister mit seinem Team in 24 Sprachen. 2001 stellt er den ersten Mitarbeiter ein und baut sich ein drittes Standbein auf, das viel Geld kostet, aber ein wichtiger Teil seines Traums wird: Zedler sorgt für vorausgreifende Gewissheit, indem er in seinem schallgedämmten Labor prüft, wie belastbar und sicher Rahmen, Sättel, Tretlager oder Lenker vor der Markteinführung sind. Dafür entwickelt er eigene Prüfmaschinen, die er auch an Hersteller verkauft.
Man kann sich das alles im Ledersessel vor dem Schreibtisch nur schwer vorstellen. Der Firmenchef hat genug erzählt. Jetzt will er was zeigen und schlägt einen Rundgang durchs Haus vor, in dem er heute 15 Mitarbeiter beschäftigt, darunter einige Ingenieure. Man kann Rad fahren oder Rad leben. Spätestens jetzt wird klar, dass auch beides geht. Zedler öffnet Vitrinen mit Radgabeln, die nicht hielten, was sie versprachen, und führt durch Räume, in denen die Geschichte der pedalgestützten Mobilität konserviert ist. Ein original Diamant-Rennrad der Tour de France hat im hauseigenen Museum seinen Platz neben dem ersten vollgefederten Modell von 1890. “Das Rad war damals der Motor der Industrialisierung”, sagt der Profi. 120 Jahre später wiederholt sich die Geschichte, und der gute alte Drahtesel wird erneut zum Motor einer Hochtechnologie, die Elektromobilität heißt.
Jede Tour geht irgendwann zu Ende. Der Radsachverständige kehrt in sein Büro zurück, in dem sich die Arbeit stapelt. Sein Urteil ist gefragt, die Auftragsbücher sind voll. Immer mehr hat er jetzt mit E-Bikes zu tun, die bei ihm geprüft werden. Manche rüsten einfach ihr altes Rad mit einem neuen Akku nach. Zedler kann nur davon abraten. Motor und Akku verändern die Konstruktion. Und die gesamte Velobranche. 2009 wurden in Deutschland 150.000 E-Bikes verkauft. 2012 waren es 400.000. Der Pionier findet das gut. “Das Pedelec bringt vielen Menschen die Freude an der Bewegung und an der Natur zurück.”
Der Unternehmer geleitet den Besucher zur Türe. Davor gibt es überdachte und beleuchtete Fahrradparkplätze. Die Mitarbeiter dürfen alle Modelle testen und ihre privaten Räder jederzeit vor Ort reparieren. Sie können an ihrem Arbeitsplatz duschen, Handtücher und Shampoo stellt der Chef ebenso wie Apfelsaftschorle. Das hat ihm den Titel fahrradfreundlichster Arbeitgeber” im Land eingetragen. Selbstverständlich fährt er selbst auch im Winter mit dem Rad ins Büro. Bei wichtigen Terminen in der Stadt nimmt er das E-Bike, auf dem er nicht schwitzt. Das Rad sei jetzt steuerlich dem Auto gleichgestellt, merkt er zum Abschied an. Wer hätte das noch vor einigen Jahren gedacht? “Es tut sich langsam was”, sagt Dirk Zedler, der immer daran geglaubt hat.
Text: Michael Ohnewald
Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.