Ein bisschen ist es bei ihm wie bei der Hummel, die eigentlich zu viel auf die Waage bringt für ihre kleinen Tragflächen. Nach allen Erkenntnissen der Flugtechnik kann sie nicht abheben. Sie weiß es bloß nicht. Und also fliegt sie los.
Stefan Lippert ist eine Art unternehmerische Hummel. Was er tut, verstößt gegen alle Regeln. Der Diplom- Designer versucht sich neuerdings in der Stuttgarter Fußgängerzone als Fahrzeughersteller. Dort baut er Mopeds mit Akku, die auf leisen Pfoten daherkommen und die Luft nicht verpesten. Wenn man es genau betrachtet, versteht er davon so viel wie der Vegetarier von der Leberwurst. Stefan Lippert kümmert sich nicht darum. Und also fliegt er los.
Es ist früher Morgen in der Landeshauptstadt. Die Luft riecht nach Regen. Eine Kehrmaschine rattert durch die Fußgängerzone. In der Calwer Straße 11 sitzt ein Mittvierziger in verwaschenen Jeans an einem weißen Tisch, auf dem bunte Filzstifte neben Spielzeugfiguren stehen. An diesem Ort verschwimmen Wirklichkeit und Vision. Stefan Lippert arbeitet mit seinem Team an Entwürfen für Bosch, Leitz, Maquet, Lamy und Playmobil. Vor einem Bildschirm fläzt ein junger Ingenieur neben einem Designer. Die Herren tüfteln an einer Krankenhausliege.
“Wir versuchen, aus unternehmerischen Ideen funktionsorientierte Produkte zu machen”, sagt Lippert. 1994 hat er als Designer in Stuttgart angefangen, heute führt er mit Özkan Isik und Wolf Leonhardt die 20 Mitarbeiter zählende Industrial Product Design and Development GmbH. Das sollte eigentlich genügen, um einen Menschen auszufüllen. Bei ihm ist das anders. Er will mehr. Er will, dass gute Ideen fliegen.
Um zu verstehen, wie einer so werden kann, muss man zurückblättern. Stefan Lippert, 1964 in Göttingen geboren, wächst in Hamburg auf. Seine Mutter ist Lehrerin. Für sie zählt nicht nur das Klassenzimmer, sondern mehr noch der Raum zur Entfaltung. Sie lässt ihn machen und Stefan Lippert probiert aus. Er ist ein leidenschaftlicher Modellbauer. In seinem Kinderzimmer riecht es nach Klebstoff und Sägespänen. Der Sohn schraubt und improvisiert, er verliert sich im Einzelteil und entdeckt im Spiel den Schlüssel fürs Ganze. Er wird davon für sein Leben profitieren.
Stefan Lippert mag Dinge, die länger halten. Er ist keiner von denen, die wegwerfen und neu kaufen. Ihm gefallen Sachen, die so gut sind, dass sich nicht die Frage nach dem Besseren stellt. Mit dem Rüstzeug des Bastlers studiert er Industriedesign in Kiel und Stuttgart. Als er sein Diplom hat, begibt er sich wie früher auf die praktische Suche nach Antworten. Nur mit dem Unterschied, dass die Fragen jetzt von anderen gestellt werden, die ihn dafür bezahlen.
Stuttgart erweist sich für Lippert als gutes Pflaster. Er lernt eine junge Musikerin kennen, lässt sich in Esslingen nieder, wird Vater von drei Kindern. Beruflich arbeitet er sich langsam von der Hinterhofwerkstatt im Stuttgarter Westen bis zur Calwer Straße vor. Dort steht vor vier Jahren plötzlich ein Kollege vor ihm und erzählt, wie er im Urlaub auf einem seltsamen Band balanciert sei, das zwischen zwei Felsen gespannt war. Spontan basteln die Designer einen Prototypen und gehen damit auf die Outdoor-Messe. Es ist der Anfang von “Gibbon Slackline”, eines florierenden Kleinunternehmens in Stuttgart.
Solche Erfolgsgeschichten bleiben hängen an der Klebefolie des Ehrgeizes. Stefan Lippert spürt, dass er als Designer nicht nur fremde Ideen umsetzen kann, sondern auch eigene. Es dauert nicht lange, bis es ihn erneut kitzelt an den Rezeptoren des Geschäftsmanns. Eine elektrisierende Idee steht im Raum. Ein Moped mit Speed aus der Steckdose. Eine Fuffzger, die Fun macht und mit dem normalen Autoführerschein gefahren werden darf.
Eigentlich arbeitet er am liebsten im Auftrag. Diesmal aber gibt es keinen Auftrag und auch keinen Partner, der sich dafür interessieren würde. Mit seinem Team zieht sich Lippert in die Werkstatt zurück, schweißt und lötet im Dunstkreis edler Boutiquen. Mit zehn Mopeds, gespeist von leistungsstarken Lithium-Ionen-Akkus, wie man sie von Handys kennt, mietet sich der Selfmade- Unternehmer auf der Fahrradmesse in Friedrichshafen einen Stand. Es brummt. Mit Elektronik aus Ravensburg, Bremsen aus Bad Urach, Rahmen aus Balingen und Batterien aus Aschaffenburg gehen sie ans Werk – und gründen die ID Bike GmbH.
Manchmal braucht der Tüchtige ein bisschen Glück. Die Region Stuttgart wird in dieser Zeit eine von bundesweit acht Modellregionen, in denen Elektromobilität im öffentlichen Raum gefördert und getestet wird. Das Bundesverkehrsministerium stellt dafür einen Millionenbetrag bereit. Als die regionale Wirtschaftsförderung dazu eine Veranstaltung organisiert, ist Lippert, der Elektronaut, mit von der Partie. Lars Walch von der Energie Baden-Württemberg (EnBW) ergreift das Wort. Er berichtet, dass sein Konzern an einen Großversuch denke. Es ist für den Stromriesen nicht mehr die Frage, ob Elektromobilität kommt, sondern wie schnell. “Da bin ich fast über die Tische gerannt”, sagt Lippert. Noch am selben Abend fährt er mit Walch in seine Werkstatt und verkauft ihm 20 Öko-Flitzer.
Im Juli 2010 startet die EnBW ein Testprojekt, das seinesgleichen sucht. 500 Menschen werden in Stuttgart für einen einjährigen Praxisversuch mit Elektromopeds vom Typ Elmoto ausgestattet. Die größte Flotte Deutschlands stromert durch den Ballungsraum. Zwei PS, 45 km/h, 60 Kilometer Reichweite. Was in China längst Wirklichkeit ist, soll auch im Schwabenland versucht werden: Elektromobilität für Massen. Lippert kann es kaum fassen: “Dass wir das als kleine Firma stemmen, hätte ich nicht für möglich gehalten.” Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße, heißt es. Manchmal gilt das auch für die Fahrenden. In diesem Jahr werden die Stuttgarter Pioniere 1.800 Bikes verkaufen. Es könnten noch mehr sein. Andere Großstädte haben angeklopft und auch Urlaubsregionen. Es stehen große Entscheidungen an. Im kleinen Team weitermachen oder einen potenten Partner aus der Industrie suchen?
Lippert steht auf und geht hinunter in seine Werkstatt. Er ist gerne hier, weil es ihn auch ein bisschen an sein Kinderzimmer erinnert. Zwei Kunden holen gerade ihre neuen Elektromopeds ab. Der Geschäftsführer grinst, als er ihnen begegnet. Das Abenteuer geht weiter. Wo es endet, weiß er nicht. “Das Meer, das vor mir liegt”, sagt Stefan Lippert, “ist offener denn je.”
Text: Michael Ohnewald
Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.