Es gibt Termine, die mit einem Händedruck beginnen und mit einer Umarmung enden. Das geschieht eher selten in einem auf Distanz angelegten Arbeitsleben, das seine Abstände pflegt. Susanne Kunschert ist gesegnet mit der Gabe, Distanz zu überbrücken. Sie tut das nicht aus Kalkül. Es passiert einfach, weil das in ihr wohnt.
Früher Morgen in Ostfildern. Die Chefin des Hauses kommt gerade vom Interview mit dem Sender Rai. Die Italiener haben das Thema Industrie 4.0 entdeckt, und Susanne Kunschert hat nicht nur ein telegenes Gesicht, sondern auch eine Menge zu erzählen über Maschinen und Produkte, die denken lernen, was ein gewaltiges Potenzial für Produktionssteigerungen birgt. “Das ist ein Thema, das uns als mittelständische Unternehmen wachrüttelt”, sagt die Firmenchefin. “Und alle krempeln derzeit die Ärmel hoch.”
Die einen nennen es Big Data, andere sprechen von Industrie 4.0 oder vom Internet der Dinge. Gemeint ist das Gleiche: Immer mehr Maschinen und Produkte werden miteinander vernetzt und kommunizieren über das Internet in Echtzeit. Die digitale Welle schwappt mehr und mehr in den Alltag der Heutigen, die über ihr Smartphone nicht nur die Beschattung des wetterfühligen Eigenheims steuern, sondern bequem via Internet ihr bestelltes Paket verfolgen, das auf seiner Reise permanent Signale sendet, auf dass der Empfänger genau weiß, wann ihn die Lieferung erreicht. Das alles sind kleine Facetten einer großen Entwicklung, die mit Macht auf die Märkte drängt und auch die Strukturen in vielen mittelständischen Unternehmen verändert, die ihre Mitarbeiter auf die neue Epoche einstimmen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Erfinder im Elfenbeinturm neue Produkte schufen, ohne sich darum zu kümmern, was vielleicht daraus werden und wie man sie vernetzen könnte. Moderne Betriebe arbeiten zunehmend in Teams. Maschinenbauer wirken mit Elektronikern und Programmierern zusammen, um am Ende gemeinsam ein Produkt zu schaffen, das über interaktive Sensoren mit der Umwelt kommuniziert.
Die gewonnenen Daten werden für die Produktion genutzt, für die Wartung und im besten Fall bereits für die nächste Generation des Geräts, das im laufenden Betrieb permanent Daten ausspuckt, welche hilfreiche Fingerzeige über die tatsächliche Nutzung und Betriebsdauer liefern. Das steigert im Zweifel nicht nur die Wertschöpfung, sondern spart auch enorm Kosten. Susanne Kunschert ist eine Art Botschafterin des Neuen, nicht nur, weil in ihrer Firma IT und Produktion längst zu praktikablen Lösungen verschmelzen. Pilz entwickelt und vertreibt Produkte und Dienstleistungen für die sichere Automatisierung, darunter Sensoren, Schaltgeräte, Steuerungen und Antriebe, die letztlich dafür sorgen, dass Menschen in der Produktion sicher und unversehrt ihrem Tagwerk nachgehen können. Das Unternehmen zählt in diesem Segment zu den Weltmarktführern. Neben dem Stammhaus in Ostfildern ist Pilz mit 31 Tochtergesellschaften und Niederlassungen auf allen Kontinenten vertreten.
Der familiengeführte Betrieb beschäftigt derzeit mehr als 1.900 Mitarbeiter und steigerte 2014 seinen Umsatz auf den neuen Rekordwert von 259,3 Millionen Euro – ein Plus von 11,3 Prozent gegenüber 2013. Dabei setzt die Hightech-Firma zunehmend auf hochgradig vernetzte Strukturen und bietet Industrie-4.0-fähige Automatisierungssysteme an. “Auch wir sind erst auf dem Weg”, sagt Susanne Kunschert bescheiden. Nicht von ungefähr wurde sie indes vom Bundesforschungsministerium in ein 25 Köpfe zählendes Gremium berufen, das sich mit Chancen und Risiken der hochvernetzten Zukunft auseinandergesetzt hat.
“Auch wenn mit Industrie 4.0 die vierte industrielle Revolution gemeint ist”, sagt die Betriebswirtin, “so ist es doch eher eine Evolution.” Diesen Prozess gelte es behutsam auch im Sinne der Mitarbeiter zu gestalten, wobei Susanne Kunschert in diesem Punkt ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge hat. “In unserer schnelllebigen Zeit braucht es mehr denn je Werte, die uns tragen, sonst haut es uns weg. Das Menschliche darf auch in Zukunft nicht zu kurz kommen.”
So denkt man, wenn man Susanne Kunschert heißt und einst in der Abi-Zeitschrift als Berufsziel “Lebenskünstlerin” vermerkt hat. Eine Kunst ist das Leben in der Tat, und sie hat es sich in der Gewissheit angeeignet, dass es da einen Brunnen gibt, der zu bewässern vermag, jenseits aller Pegelstände, die sich in dieser Welt ständig ändern. Dieser Glaube ist ihr von den Eltern in die Wiege gelegt worden, die ihre 1970 geborene Tochter mit christlichen Werten düngten, nicht aber mit dem Ehrgeiz, eines Tages das Familienunternehmen leiten zu müssen. “Wir Kinder waren in der Berufswahl völlig frei”, sagt Susanne Kunschert im Rückblick.
Der Vater starb früh bei einem Flugzeugunglück, die Mutter ließ ihr Raum für die eigene Spiritualität und dafür, die persönliche Mitte zu finden, was im Zweifel wichtiger ist als das Diktat der Quartalszahlen. Susanne Kunschert studierte Betriebswirtschaft und eher nebenbei die Kunst des Lebens. In den Semesterferien jobbte sie in Malawi und lernte bei Pater Franz Stoffel, wie sehr Begegnung bereichert. “Wenn ich hier in Deutschland auf Leute treffe, die ständig unzufrieden sind, dann denke ich oft an das Lachen der Afrikaner.” Geprägt hat sie auch der Ulmer Theologe und Buchautor Baldur Kirchner, bei dem sie nicht nur immer wieder Schweigeseminare bucht, sondern sich auch seiner Ratschläge bemächtigt. Einer davon wirkt bis heute nach: “Wenn du andere führen möchtest, mögest du gelernt haben, dich selbst zu führen.”
Das hat sie längst verinnerlicht. Susanne Kunschert kann nicht nur mit Zahlen, sondern vor allem auch mit Menschen, die sie für sich gewinnt mit einem fröhlichen Erlebnishunger, der ansteckend wirkt. Das hilft im Alltag durchaus, wenn es darum geht, die Belange der Firma mit den Wünschen ihres zehnjährigen Sohns in Einklang zu bringen, der seine Mutter immer wieder dezent korrigiert, wenn sie mit den Füßen vor ihm steht, aber mit dem Kopf noch im Büro ist. Das Unternehmen leitet sie gemeinsam mit Bruder Thomas und Mutter Renate. “Wir harmonieren bestens”, sagt sie. “Und wenn es mal nicht klappt, beten wir eben zusammen und dann löst es sich.”
Einmal im Jahr organisiert das Trio eine Unternehmensversammlung, in der es darum geht, die Megatrends der Zukunft zu erspüren und die eigenen Strategien zu hinterfragen. Susanne Kunschert ist bestens vernetzt wie die Produktion von morgen – und damit gut aufgestellt. Und doch ist ihr bei alledem bewusst, dass nicht sie es ist, die alle Fäden in der Hand hält. Ihr zeitloser Megatrend bleibt der Glaube. “Ich bin zu der geworden, die ich bin, weil ich mich durch Gott führen lasse”, sagt sie zum Abschied und umarmt ihr Gegenüber, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Text: Michael Ohnewald
Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.