Ein Vorhang aus feinen Regentropfen hängt über der Likörfabrik Jacobi im Remstal. Vor zwölf Jahren ist die Lizenz zum Schnapsbrennen ausgelaufen. Der alte Geist hat sich seitdem verflüchtigt, ein neuer ist eingezogen. Der Geist der Innovation.
An diesem Ort werden Dinge erdacht, die schön sind, funktional und manchmal auch revolutionär. Auf einem Tisch steht ein Laufschuh, Größe 45. Für das gute Stück wurden spezielle Spikes entwickelt und produziert (Foto S.10). Derart besohlt, gewann der Sprinter Ato Bolden bei den Olympischen Spielen in Sydney eine Medaille. “Der Schuh wiegt 113 Gramm”, sagt der Hausherr, ein hochgewachsener Mann mit offenem Blick. “Das entspricht sechs Scheiben fein geschnittenem Fleischkäse.”
Es gibt nicht viele, denen es gegeben ist, das Kleine und das Große in dieser Art zu verbinden, den Hightech- Schuh für Sydney mit der Wurst vom schwäbischen Metzger. Es gibt nicht viele, die mit dem Kopf im Himmel sein können und mit den Füßen zugleich auf dem Boden. Bernd Kußmaul kann es.
Ein winterlicher Morgen in einer mittelständischen Firma in Weinstadt vor den Toren Stuttgarts. Der Chef trägt einen dunklen Anzug zum karierten Hemd. Vor zehn Jahren ist er mit seiner Firma hier eingezogen. Das umgebaute Industrierevier hat viele Fenster, warme Holzböden, und eine Seele hat es auch. In fast jeder Ecke stehen hübsch dekorierte Tannenzweige. Die schlaksigen Kakteen neben dem Schreibtisch der Empfangsdame tragen Nikolausmützen. Neben einer Espressomaschine warten Süßigkeiten auf Zuspruch.
Viele, die hier arbeiten, stammen aus Breuningsweiler, einem kleinen Flecken aus der Nachbarschaft. Der Firmengründer wohnt dort mit seiner Frau und den beiden Töchtern. In Breuningsweiler hat er früher Fußball gespielt. Er war Stürmer wie sein Vater. Kußmaul lebt erstaunlich gegenwärtig mit der Vergangenheit. Er rekrutiert nicht nur einen Teil seines Personals aus dem Ort, sondern kümmert sich auch als Mäzen um die Jugend im Fußballclub. Es wurde ein Förderverein gegründet, der Nachhilfe finanziert und Lehrstellen sucht.
Die Beständigkeit hat mit einem Lebenslauf zu tun, der kein glatt gebürsteter ist. Bernd Kußmaul wird 1963 in Winnenden geboren. Seine schulische Karriere startet auf der Hauptschule. Er wechselt von dort auf die Realschule, macht die Mittlere Reife und eine Lehre zum Maschinenschlosser bei der Bahn. Nach der Bundeswehrzeit heuert er bei einer Firma in Winnenden an. Als Geselle arbeitet er an der Werkbank und mehr noch an sich selbst. Kußmaul bildet sich zum Maschinenbautechniker weiter und wechselt 1991 zur Affalterbacher Fahrzeugschmiede AMG. Er ist dort für die Teile zuständig, die im Rennsport benötigt werden. In diesem Business kommt es auf Schnelligkeit an, nicht nur auf der Strecke. Nach den Rennen verbessern die Konstrukteure ihre Autos, fertigen Pläne und bestellen kurzfristig neue Spurstangen und Querlenker. Der Einkäufer muss kleine Wunder vollbringen und große. Er baut sich ein Netzwerk von verlässlichen Partnern auf. Nebenbei besucht er auf der Abendschule einen Kurs für angehende Betriebswirte.
Fünf Jahre später wagt Kußmaul den Schritt in die Selbstständigkeit. Anfangs quartiert er sich im Keller der Schwiegereltern ein. Als Engineering-Dienstleister spezialisiert er sich auf feinmechanische Spezialteile für den Maschinen- und Automobilbau, für die Luft- und Raumfahrt und für die Medizintechnik. Kußmaul nutzt sein Netzwerk und lässt für seine Kunden überschaubare Stückzahlen produzieren. Geprägt durch seine Zeit im Rennsport ist der Jungunternehmer fixer als die meisten seiner Konkurrenten – und kompromissloser, wenn es um die Qualität geht.
Es gibt viele Gründe, warum Geschäftsideen in Gang kommen. Einer davon ist bodenständige Weltläufigkeit. Der Name Kußmaul wird zum Programm. Dem Chef steigt das nicht zu Kopf. Er weiß, wo er herkommt. Und er weiß, wo er hin will. Wenn Frau und Töchter sonntags ausschlafen, schleicht sich der Familienvater frühmorgens ins Büro, um drei Stunden später mit Brötchen wieder zurück zu sein. Das ist ihm keine Last. Er tut es gerne. Manche gehen in ihrer Arbeit unter. Kußmaul geht in ihr auf.
Aus kleineren Stückzahlen werden größere. Die Firma entwickelt sich und arbeitet bald für Kunden wie Audi. Sie kümmert sich um Motorengehäuse für den Riesen- Airbus 380, versorgt Bugatti mit Tankdeckeln, lässt Antriebswellen für den Zeppelin bauen, beliefert den Sportwagenhersteller Aston Martin, leuchtet in neue Materialwelten hinein und feilt am Design der Luxuskarossen von morgen. Inzwischen beschäftigt Kußmaul mehr als 40 Mitarbeiter. Der Umsatz liegt 2011 bei rund neun Millionen Euro.
Manchmal hält der Chef selbst verblüfft inne und fragt sich, wie das alles passiert ist. Neulich war das wieder so, als sein Team mitwirken durfte an einem 1,65 Millionen Euro teuren Bugatti. In dem 407 Stundenkilometer schnellen Supersportwagen wurde filigranes Porzellan von der Mittelkonsole bis zum Tankdeckel verbaut. Der Werkstoff kam aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur in Berlin, das Know-how für die Verbindung zum Aluminium kam aus Weinstadt.
Wirkliche Größe offenbart sich im Kleinen. Dass die Techniker, Entwickler und Designer des Hauses auf schwierige Fragen immer wieder passende Antworten finden, hängt wohl auch mit der Freiheit zusammen, die ihre Firma atmet. Der Geschäftsführer schickt seine Leute regelmäßig auf Fortbildungen und gewährt seinen Teamleitern auch ein kleines Budget, über das sie keine Rechenschaft ablegen müssen. Mit dem Geld können sie Materialien oder Versuchsteile bestellen, um damit zu experimentieren. Das hat dem Betrieb nicht nur manche zündende Idee eingetragen, sondern vor drei Jahren auch den Siegertitel unter den 100 innovativsten Mittelstandsfirmen Deutschlands.
Wer nicht um seine Wurzeln weiß, so heißt es, hat keine Zukunft. Kußmaul lebt danach. Innovation und Bodenständigkeit fließen bei ihm ineinander wie die Rems in den Neckar. Das eine ist seine Paradedisziplin wie das andere. Virtuelle Realität am Hochleistungscomputer und händische Qualitätskontrolle an der Werkbank. Der Mikrokosmos von Breuningsweiler und der Makrokosmos von Bugatti.
Er fährt gut damit. Der Tüftler, der seine Lieferanten als Fertigungspartner bezeichnet, kann auf langfristige Verträge bauen. Ideen und Pläne gehen ihm nicht aus. Gespeist mit der Kraft aus der Provinz, hält sich der Local Player auf der Überholspur der Global Player. Das eine bedingt das andere. “Ob Sie es glauben oder nicht”, sagt Bernd Kußmaul zum Abschied, “ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden.”
Text: Michael Ohnewald
Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.